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Mehr als bloß feuchte Theorie

FESTIVAL Bei den traditionsreichen Donaueschinger Musiktagen gab es am vergangenen Wochenende Sakrales und Orgiastisches – und man nahm Abschied

Bizarre Bilder entstehen durch die transparenten Tücher Foto: Donaueschinger Musiktage

aus Donaueschingen Teresa Roelcke

Man stelle sich die Akustik einer venezianischen Kirche vor. Okay, in diesem Fall braucht man sie sich gar nicht vorzustellen, denn sie wird hier nachgestellt. Die Komponistin Olga Neuwirth hat gemeinsam mit dem Klangforschungsinstitut IRCAM eine Methode entwickelt, mit deren Hilfe man den Klang der venezianischen Chiesa di San Lorenzo auf andere Konzertsäle projizieren kann. In diesem künstlichen Kirchenklang ist nun ihre Komposition „Le ­Encantadas o le ­avven­ture nel mare delle meraviglie“ zu hören, ein 70-minütiges Werk für das Ensemble inter­contemporain.

Die Uraufführung war im Rahmen der diesjährigen Donaueschinger Musiktage für Neue Musik zu erleben, die von Freitag bis Sonntag in der baden-württembergischen Kreisstadt über die Bühne gingen. Dazu verwandelt sich der Bartók-Saal der Donauhallen also quasi in de Kirche San Lorenzo – die Möglichkeiten aber, die es gäbe, den heiligen Hall als Widerpart zu den Instrumenten einzukomponieren, gehen leider etwas unter in massiven, flirrenden Klangflächen. Eindrückliche Stellen gibt es trotzdem: etwa, als künstliche Stimmen in sanfter Sterilität zu singen beginnen und sich dann langsam die Blechbläser daruntermischen. Ein schriller Effekt.

Ebenfalls schrill ist Trond Reinholdtsens Performance „Ø“. Auf einer Leinwand sieht man in einer Blumen- und Farnwelt Gestalten mit klobigen Pappmachémasken abstruse Orgien feiern, sich dabei in Cola-Badewannen schmeißen, in Spaghetti suhlen und mit gepitchten Stimmen „Harmony“ juchzen. Ensemblemusiker kreischen dazu abwechselnd „Liberté“ und produzieren wilde Akkorde mit ihren Instrumenten.

„Ø“ ist Teil von Patrick Franks Theorieoper „Freiheit – die eutopische Gesellschaft“, die von sich selbst behauptet, „feuchte Theorie in der trockenen Neue-Musik-Wüste“ zu sein. Bei der Mischung aus Performance, Musik und Symposion fliegen Konfetti, auf Bierbänken werden Brezeln gegessen, Mozart und Chopin werden ineinandergeschnitten und ein Bildschirm an der Seite zeigt das aktuelle Urteil des Publikums über das Event. Abstimmen kann man auf Tablets, die auf den Tischen liegen.

Tablets nutzt auch Stefan Prins in „Mirror Box Exten­sions“ für das Ensemble Nadar, mit Live-Elektronik und Live-­Video. Dass die Tablets Teil der Komposition sind, merkt man dabei erst nach und nach. Das Stück verflicht zart quietschende Klänge und ist an der Schnittstelle von Elektronik und Instrumentenklängen angesiedelt. Nie ist man sicher, ob das Fiepen von der Geige oder einem Rückkopplungseffekt kommt. Und der Gitarrist im blauen Sakko entpuppt sich dann doch als Videoprojektion auf eines der transparenten Tücher, die von der Decke hängen. Bizarre Bilder entstehen dabei.

Es verwundert nicht, dass manche im Publikum diese auf ihrem Tablet festhalten wollen, bis es immer mehr von den kleinen Computern werden, die über den Köpfen des Publikums erscheinen, und sie auf einmal eigenständige Videos zeigen.

Noch Etliches mehr konnte man hören in Donaueschingen: ein Stück für Ensemble und kleine knatternde Maschinen von Orm Finnendahl, eine Art Collage aus Stilfragmenten und aufgenommenen Geräuschen von Richard Ayres und ein „Oktett für 8 Posaunen“ von Georg Friedrich Haas, das in einer einstimmigen mikrotonalen Melodie anhebt, sich in feine Cluster-Akkorde verbreitert und dann in Obertonspektren auffächert, als teste Haas die Möglichkeiten, einen einzigen Ton zu dehnen und wenden.

Gestalten werfen sich in Cola-Badewannen und suhlen sich in Spaghetti

Ein Thema prägte das Wochenende: Abschiede. Armin Köhler, der die Musiktage 22 Jahre lang geleitet hat, ist im vergangenen Jahr gestorben. Beinahe alle Kompositionen dieses Jahrgangs hat er noch selbst in Auftrag gegeben, auch wenn ihre Realisierung nun sein Nachfolger Björn Gottstein betreut hat. Trotzdem steckte etwas von Köhler „in jeder Note“, bemerkte ein Orchestermusiker.

Eine prägende Figur

Abschied nahm auch das von François-Xavier Roth geleitete SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, das die Musiktage als eines der wichtigsten Ensembles für Neue Musik über Jahrzehnte geprägt hat. 2016 wird das Orchester mit dem Radio Sinfonie Orchester Stuttgart des SWR zusammengelegt. Auch den bislang vom SWR Sinfonieorchester vergebenen Preis gab es also zum letztes Mal: Er ging an Mark Andres Komposition „über“ für Klarinette, Orchester und Live-Elektronik.

Mit „über“ hat ein leises Stück gewonnen, das mit Atemgeräuschen an der Soloklarinette beginnt. Im Orchester streicht man an den Stegen und steigt so ein in das raue Atmen. Ruhige Töne der Klarinette zieht die Elektronik sanft entfremdend über das Instrument hinaus bis ins Orchester. Am Schluss spielt die Klarinette alleine, mit großen Pausen, fast leiser als der Atem des Publikums, bis auch diese leisesten Reste in einem fast sakralen Moment verschwinden.

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