piwik no script img

Die gefühlte Mittelschicht

Ausgleich Es gibt Ungleichheit in Kuba, sogar Armut. Kubas Sozialpolitik sollte das endlich anerkennen

Wolken am Himmel Foto: Alfredo Sarabia Senor

Von Rachel Dominguez Rojas

Ungleichheit in Kuba ist nicht erst nach dem 17. Dezember entstanden. Ich glaube, man merkt heute mehr davon, wenn man durch die Straßen läuft, und man schaut genauer hin, aber das Problem hat sich schon während der schlimmen Wirtschaftskrise in den 90er Jahren herausgebildet. Das war, als wenn man ganz oben steht und eine Wand anstreicht, und mit dem Untergang der alten Sowjetunion wird auch gleich deine Leiter mit abgeräumt. „Du hängst am Pinsel“, sagt man auf Kuba.

Die Geschichte der Ungleichheit auf Kuba in den letzten Jahrzehnten wurde zwar geschrieben, aber nicht groß verbreitet. Der politische Diskurs vermied jeden Bezug zum Thema, von „Armut“ sprach man ohnehin nicht. Umso mehr heute, da das neue Motto des Landes heißt, einen „gedeihenden und nachhaltigen Sozialismus“ zu erreichen, „der weniger egalitär, aber gerechter ist“. Ja, weniger egalitär, aber gerechter.

Die Soziologin Mayra Espina stellt fest, dass das Thema in den offiziellen Dokumenten zur sozio­ökonomischen Modernisierung in Kuba fast nicht vorkommt: „Die Leitlinien lassen jeden Bezug auf die Situation von Armut und Ungleichheit weg, und sie sehen auch keinerlei Maßnahmen vor, mit einer ausgleichenden Sozialpolitik gegenzusteuern.“ Und da wird es dann schon gefährlich.

Welche Mittelschicht?

Vor zwei Monaten sagte An­to­ny Blinken, Nummer zwei im US-Außenministerium, dass die Maßnahmen „die wir ergreifen, die kubanische Mittelschicht stärken. Das ist das beste Instrument, um zu erreichen, was wir alle wollen: ein freies, gedeihendes und demokratisches Kuba.“

Mittelschicht? Welche Mittelschicht? Bei einer kurzen Umfrage unter jungen Journalisten und Ingenieuren stellte ich fest, dass niemand so genau weiß, zu welcher Klasse er nun gehört. Zum Teil, weil man in Kuba nicht von Klassen spricht, sondern von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Beide Konzepte beschreiben zwar das Gleiche, haben aber vollkommen andere politische Konnotationen.

Einige, wie die 25-jährige Ingenieurin Marian Velasquez, haben das für sich geklärt: „Ich bin Mittelschicht. Ich kann meine Grundbedürfnisse befriedigen und mir bleibt noch ein bisschen was übrig für Dinge, die mir Spaß machen.“ Andere haben da größere Probleme: „Wenn du mein Gehalt mit dem der anderen vergleichst, die das Gleiche machen wie ich, ist es in Ordnung, es ist so gar ein bisschen über dem Durchschnitt. Ich habe keine Kinder und mache mit meinem Geld, was ich will. Wenn das Mittelschicht heißt, dann bin ich das wohl“, erklärt Laura, auch sie Ingenieurin, die im Zentrum für Angewandte Technologie arbeitet.

Weg zum Sozialismus?

„Ich wäre wohl Unterschicht. Was materielle Werte angeht, besitze ich nichts, so wie fast alle. Aber was Chancen angeht, ist es anders: Da bin ich im Vergleich zu vielen sehr privilegiert“, sagt ein 26-jähriger Informatiker, der in einem IT-Forschungszentrum arbeitet. Sein Gehalt liegt etwa beim Dreifachen des Durchschnittseinkommens von rund 24 Dollar im Monat.

Ist das die Mittelschicht, auf die sich Blinken bezieht? Ich vermute nein. Die Maßnahmen, die der US-Politiker meint, sind auf den Privatsektor ausgerichtet. Die Mittelschicht, von der der Mann spricht, versteht man vielleicht in den USA so. In Kuba muss die Definition erst noch erfunden werden.

Selbst Weltbank und Internationaler Währungsfonds gehen davon aus, dass Ungleichheit Wirtschaftswachstum hemmt. Und so ist es ein Widerspruch, wenn Kuba auf seinem Weg zum Sozialismus Wirtschaftsreformen einleitet, ohne die sozialen Indikatoren zu berücksichtigen oder ihnen Priorität zu geben.

Schon als vor ein paar Jahren der Privatsektor zugelassen wurde, waren die Bedingungen ungleich. Es schnitten jene gut ab, die über eine entsprechende Ausbildung, über Kapital oder Güter verfügten oder über die entsprechenden Beziehungen. Die bereits bestehende Ungleichheit wurde nur reproduziert.

Es zeigt sich, dass auch Kubas Sozialpolitik reformiert werden muss. Nicht alle brauchen das Gleiche, einige brauchen mehr als andere. Um dementsprechend zu handeln, muss man das erst einmal eingestehen. Ob wir tatsächlich zum Sozialismus voranschreiten oder zu einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft, wird auch davon abhängen, ob der offizielle Diskurs die Unterschiede endlich anerkennt.

Rachel Dominguez Rojas, 26, arbeitet für die Zeitschrift Progreso Semanal und die Kulturzeitschrift La Jiribilla.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen