Warum gehen wir ins Kino?

FILMKUNDE Das 18. Internationale Bremer Symposium zum Film hat das Thema „Zuschauer? Zwischen Kino und sozialen Netzwerken“. Im Rahmen der Veranstaltung wird der 15. Bremer Filmpreis verliehen

VON WILFRIED HIPPEN

Das Fragezeichen im Titel ist bezeichnend. Gerade jetzt, wo dem traditionellen Kino die Zuschauer abhanden zu gehen drohen, erkennt man, was für eine unbekannte Größe sie beim Film immer waren. Die Filmindustrie versucht schon lange, sie mit Testscreenings kalkulierbarer zu machen, und lässt schon mal einzelne Filme komplett umschneiden oder neue Szenen nachdrehen, wenn das Publikum dies zu verlangen scheint. Doch welche Filme letztlich zu Kassenerfolgen werden und welche floppen, ist immer noch kaum vorhersehbar. Mit den neuen elektronischen Medien wird das Problem noch gravierender, denn die „digital natives“ sind zwar mindestens so begierig auf mit bewegten Bildern erzählte Geschichten wie jene Generationen, für die der Film das Leitmedium war, aber ins Kino wollen und brauchen sie dafür immer weniger zu gehen.

Schon im letzten Jahr haben sich die Veranstalter des Internationalen Symposiums zum Film mit dieser strukturellen Krise des Kinos beschäftigt. Damals war die Frage „Was ist Kino?“, jetzt geht es einen Schritt weiter. Die Universität Bremen veranstaltet zusammen mit dem Bremer Kommunalkino City 46 dieses Symposium, das deshalb mehr als nur eine akademische Veranstaltung ist, weil sie eben in einem Kino stattfindet, und dort viele der erörterten Filme nach den entsprechenden Vorträgen gezeigt werden. Von Freitag bis Sonntag werden fünf Filmwissenschaftler ihre Thesen referieren und mit ihren Kollegen diskutieren. Dazu werden Filme gezeigt (siehe local shorts) und Programme mit Kurzfilmen sowie Experimentalfilmen gezeigt.

Das Programm beginnt am Freitag um 14 Uhr mit Grußworten und einer Einführung durch den Organisatoren der Veranstaltung Winfried Pauleit von der Universität Bremen. Danach hält die Filmwissenschaftlerin Heide Schlüpmann einen Vortrag mit dem Titel „Faszinierendes Haus“, in dem sie über „die Gestaltung des Kinos und seiner Filme unter dem Einfluss des weiblichen Publikums“ referiert. Während von der feministischen Filmtheorie ja lange vom vorherrschenden „männlichen Blick“ im Kino die Rede war, ist dies nun eine spannende Gegenposition. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass seit einiger Zeit eines der Multiplexkinos in Bremen im Gegensatz zu den Konkurrenten wachsende Besucherzahlen aufweisen kann. Als eine Begründung dafür wird angeführt, dass sich die weiblichen Gäste in den helleren, offeneren und saubereren Räumen wohler fühlen.

Am Freitagnachmittag wird die Filmtheoretikerin Janet Staiger von der University of Texas einen Vortrag mit dem kuriosen Titel „Nuking the Fridge“ halten. Sie bezieht sich dabei auf eine Sequenz in dem Film „Indiana Jones and the Kingdom of the Crystal Skull“, in dem der Held eine Atombombenexplosion übersteht, indem er Schutz in einer Tiefkühltruhe sucht. Der Begriff steht inzwischen für offensichtlich absurde und unplausible Plotwendungen. Am Beispiel dieser späten (2008) Fortsetzung der Indiana Jones-Filmreihe beschreibt Staiger die Erwartungen und Reaktionen von eingefleischten Filmfans auf den Film. An diesem Beispiel untersucht sie die Beziehungen zwischen den Filmproduzenten und Fankulturen, die bei Blockbustern, Mehrteilern und Fortsetzungen wie „Star Wars“, „Harry Potter“, „Herr der Ringe“ oder aktuell „Der Hobbit“ immer entscheidender für das Endprodukt werden.

Am Samstag stellt Guillaume Soulez in seinem Vortrag die neue Entwicklung von interaktiven Dokumentarfilmen vor. Er berichtet darüber, dass ein französischer Fernsehkanal eine Dokumentation in Guinea unter dem Titel „Kindia“ produzierte, deren endgültige Form (angeblich) durch die Entscheidung der Zuschauer bestimmt wurde. Die neuen Sehgewohnheiten der Zuschauer hat Josep M. Català von der Universität Barcelona analysiert. Unter dem Titel „The Interface Image“ entwirft er davon ausgehend „ein neues Konzept der Zuschauerschaft, das die klassische Rezeptionsform des Kinos ersetzt“.

Der Filmwissenschaftler Mathias Frey von der University of Kent widmet sich schließlich in seinem Vortag am Sonntagvormittag dem „unbelehrbaren Zuschauer“. Denn anders, als in der Filmtheorie bisher vorausgesetzt, schaut der Zuschauer oft nicht ruhig und konzentriert den Film von Anfang bei Ende an, sondern er reagiert genervt, gelangweilt, angeekelt, schaut bei bestimmten Szenen weg, schläft ein oder verlässt einfach die Vorstellung. Anhand von Beispielen aus der Filmgeschichte werden diese Reaktionen untersucht und so vielleicht nicht unbedingt die wichtigsten Frage über den Zuschauer gelöst, aber langweilig wird dieser Vortrag ganz bestimmt nicht werden.

Ein wenig ironisch ist es schon, dass bei diesem Thema des Symposiums ausgerechnet der ungarische Filmemacher Béla Tarr den 15. Bremer Filmpreis erhält, der von einer Stiftung der „Sparkasse Bremen“ vergeben wird und mit 8.000 Euro dotiert ist. Denn Tarr gehört zu jenen Filmkünstlern, die sich nur wenig um die Bedürfnisse der gemeinen Zuschauer scheren und von ihrem Publikum stattdessen ein gewisses Durchhaltevermögen einfordern. Deshalb werden seine Filme selten gezeigt und oft zitiert. Tarr ist ein kontemplativer Regisseur, der mehr Wert darauf legt, dass sich die Zuschauer (wenn sie denn kommen) in seine Bilderwelten versenken. Dafür nimmt er sich Zeit. So gibt es wenige Schnitte in seinen Filmen (nur 39 in den 145 Minuten von „Werckmeister Harmonies“), so dass nicht nur die meisten Handlungen in Echtzeit gezeigt werden, sondern die Einstellungen auch oft länger dauern, als dramaturgisch nötig wäre. Fast zwangsläufig folgt daraus, dass seine Filme für gewöhnlich Überlänge haben. So dauerte „Sátántango“ von 1993 450 Minuten und wird wohl auch deshalb in der kleinen Werkschau im City 46 in den nächsten Wochen nicht gezeigt.

Die Jury besteht aus der Kollegin Cristina Nord von der taz, dem Regisseur Pepe Danquart und dem Filmwissenschaftler Rainer Rother. In ihrer Begründung loben sie Tarr für „die ästhetische und narrative Exzentrik seiner Filme, das Formbewusstsein, die langen, schwebenden, mäandernden Einstellungen, seine radikale Abkehr von den Geboten des Zeitgeists“. Der Preis wird dem auch als Person als eigensinnig geltenden Tarr heute Abend im gewohnt festlichen Rahmen in der Unteren Rathaushalle verliehen. Es gibt übrigens, wie so oft, wieder eine Querverbindung zwischen dem aktuellen und einer früheren Preisträgerin, denn Tilda Swinton, die 2001 in Bremen geehrt wurde, hat einen kleinen Auftritt in Tarrs „The Man from London“.

Weitere Informationen unter city46.de