: „Müntefering ist die Quelle des Chaos“
Der scheidende SPD-Chef hat versagt, sagt der Parteienforscher Franz Walter. Allerdings hat er es mit einer Partei zu tun, in der tradierte Regeln ihre Bindungskraft verloren haben – es herrschen Zustände wie sonst nur in der FDP
taz: Herr Walter, kommt eine junge Frau wie Andrea Nahles gerade noch rechtzeitig, um die in Würde ergraute SPD zu retten?
Franz Walter: Gewiss nicht, denn wie soll jemand die Partei retten, der nicht weiß, wofür er steht? Die Jungen in der SPD wissen nur eines: Sie wollen nach oben und in der Parteispitze mitmachen. Doch wofür sie das wollen, das wissen weder die Parteilinken noch die Netzwerker so genau.
Die Richtung geht doch klar nach links …
Ach, Unsinn. Die parlamentarische Linke – Frau Wieczorek vorweg – hat sich doch bisher stets recht devot gegenüber der Parteiführung und all ihren Entscheidungen verhalten. Doch in dem Moment, wo sie einmal Flagge zeigt, tut sie das nicht mit einer linken Orientierung, sondern als eine Art sorgloser Jugendbewegung. Wenn das Ganze einen Wechsel einläuten soll, dann ist es ein richtungsloser. Die Jungen in der SPD wollten ein Zeichen setzen. Leider haben sie sich dafür den extrem falschen Moment ausgesucht und sich benommen wie eine Juso-Hochschulgruppe in einem Studentenparlament. Man kann nicht auf dem Höhepunkt von Koalitionsvereinbarungen die eigene Verhandlungsführung beschädigen. Nun schreitet die Partei auf dem Weg ihrer FDPisierung unaufhaltsam vorwärts.
Was bedeutet FDPisierung?
Die Zeit scheint inzwischen sehr fern, aber es gab sie: Da wurde die SPD beispielsweise sehr lange von ein und demselben Vorsitzenden geleitet. Seit etwa 15 Jahren ändert sich das zunehmend. Das Personal wird öfter ausgetauscht, und zwar oft jäh, plötzlich, spontaneistisch. Es gibt Zustände, wie wir sie früher nur aus der FDP kannten. Leute schwächen die Führung und hauen sich gegenseitig die Beine weg, selbst in den Situationen, in denen es auf Geschlossenheit ankommen würde. Tradierte Regeln und Normen verlieren an Bindungskraft. Normalerweise sind besonders Volksparteien gut darin, Kompromisse auszuhandeln. Wenn sie das nicht einmal mehr in den eigenen Reihen können, sollte man sich dort fragen, welche Gründe es dafür gibt.
Welche Gründe gibt es?
Fangen wir mit den tiefer liegenden an. Die SPD ist kein diszipliniertes Kollektiv von Unterprivilegierten mehr. Das homogene Milieu, in dem sie einst wurzelte, gibt es nicht mehr. Stattdessen wird die Partei immer mehr von den Individualisten der so genannten neuen Mitte bevölkert. Die halten sich nur noch bedingt an die überkommenen Regeln von Solidarität und Einordnung. Diese Abstimmung war ein Kräftemessen zwischen alter und neuer SPD.
Die alte hat verloren?
Ja, aber ohne dass die neue Partei etwas an diese Stelle setzen könnte.
Sie geben allein den Jungen die Schuld an dem Chaos?
Im Gegenteil, Müntefering hat auch versagt. Er selbst ist kein großer Intellektueller, jemand, der die Partei an neue Inhalte heranführen könnte. Dieses Defizit hätte er mit der Besetzung des Generalsekretärs ausgleichen müssen. Doch was tut er? Er versucht, mit Wasserhövel quasi sich selbst auch noch auf diesen Posten zu setzen. Einen Mann mit den gleichen Stärken, aber auch mit den gleichen Schwächen. Dass er auf seiner Entscheidung so apodiktisch bestanden hat, zeigt, wie wenig selbstbewusst Müntefering als Parteiführer ist. Er traut nur sich selbst. Zusammenfassend lässt sich sagen: Müntefering ist die Quelle des Chaos – aber die anderen haben es aus Unreife noch verstärkt.
Sehen Sie im Fall Münteferings Parallelen zum Rücktritt Oskar Lafontaines?
All jene, die wie Schröder und Müntefering bisher mit viel Pathos auf Lafontaine gezeigt haben, sollten spätestens jetzt sehr still werden. Schröder hat aufgegeben, obwohl er eine Mehrheit im Parlament hatte. Müntefering wirft hin, obwohl seine Autorität bisher unbestritten war. Wenn das nicht Davonlaufen ist, was dann?
Wundert es Sie, dass gerade der Parteisoldat Müntefering sich so gehen lässt, anstatt weiterzumarschieren?
An Mythen ist immer etwas Wahres dran, aber manchmal eben weniger, als es zunächst scheint. Hier ist genau das der Fall. Gern haben Journalisten diesen Mythos vom stets funktionierenden Parteisoldaten Müntefering mit geschaffen und benutzt. Auf diese Weise konnte man auch seiner Person noch etwas Magie verleihen. Aber die Wirklichkeit ist oftmals sehr viel kleiner und kleinlicher als der Mythos. Die Magie verfliegt dann.
Jetzt mal ehrlich, obwohl Sie sagen, dass die SPD schon seit einiger Zeit in diese Richtung steuert: Waren Sie auch überrascht?
Natürlich, ich habe gedacht, man einigt sich auf einen Kompromiss und setzt Nahles auf einen Posten als stellvertretende Parteivorsitzende. Aber durch dieses stete Auf und Ab hat der SPD-Forscher den einzigen sicheren Arbeitsplatz der ganzen Republik. Alle halbe Jahre fragt jemand nach der größten Krise in der SPD. INTERVIEW: DANIEL SCHULZ