Press-Schlag: Das große süße Gift
AUSSENSEITER II Auch wenn die Emporkömmlinge das Establishment gerade erfolgreich mit limitiertem Leidenschaftsfußball quälen, die Erfahrung lehrt: Das nimmt kein glückliches Ende
Alle blickten seit Tagen gebannt, gespannt, aufgeregt, wie von Sinnen auf den gestrigen Clash, Kracher, Gigantengipfel zwischen dem FC Sowiesowiedermeister und Dortmund. Aber bitte: Ist es wirklich wichtig, ob die Bayern schon am 8. Spieltag uneinholbar davonziehen oder den nächsten Titel erst in ein paar Wochen einsacken? Wichtigere Themen liegen herum.
Es ist an der Zeit, sich lieber der Zweiten Liga zu widmen. Bochum, Pauli, Fürth, vielleicht gar Heidenheim oder noch garer Sandhausen: alles Kandidaten für die Bundesliga, die protzige im Land des Weltmeisters. Heidenheim und Sandhausen – das wäre noch mal eine Steigerung zu Darmstadt und Ingolstadt.
Die Zweitligaklubs nehmen den bisherigen Saisonverlauf der Bundesliga staunend als besondere Motivation. Hah, was die können aus Darm- und Ingolstadt, können wir -heimer und -häuser auch.
Darmstadt 98, pflichtschuldig willkommen geheißen und ansonsten hüstelnd belächelt, galt als sicherster Absteiger seit Tasmania 1900. Jetzt quälen sie das Establishment mit ihrem limitierten Leidenschaftsfußball. Der Begriff ist kein Spott sondern Lob. Der Trainer sagt, der Erfolg läge auch daran, dass sich sein Personal auf dem Platz so gut gegenseitig coache. Das ist modern gesagt für die alte 11-Freunde-Mentalität – einer für den anderen etc.
98 hat einen Kader mit neulich noch woanders Gescheiterten, zusammengesammelt ohne eigene Scouting-Abteilung: Da ist beispielsweise Marcel Heller, der in der F-Jugend beim Training des banalen Spannschusses gefehlt hat und diesen folgerichtig bis heute nicht in Ansätzen beherrscht. Der bei Alemannia Aachen in Liga 3 keinen Stammplatz hatte. Jetzt macht er, was er kann – rast bolthaft ohne Pause über den Rasen und schlenzt halt. Vier Saisontore. Kopfschütteln nicht nur in Aachen.
Der FC Ingolstadt, vorher als Retortenklub beargwöhnt, steht derweil noch weiter oben; und das obwohl die Mannschaft gerade erst im vierten Anlauf spät ihr erstes Heimtor erzielen konnte. Die Spieler werden schon gefragt, ob sie eine Europokalprämie im Vertrag stehen haben. Selbst der HSV, im Frühsommer noch Synonym für Stolperfußball und als Wiederaufsteiger in der duselvollen Relegation eigentlich auch ein Neuling, hält fröhlich mit.
Die Zweitligaklubs können derweil üben, wie man es im Erfolgsrausch sogar den ganz Großen gleichtun kann. Darmstadts Sandro Wagner, noch so ein erfolgloser Vereinevagabund vieler Spielzeiten, jagte gegen Mainz einen Elfmeter in den Nachthimmel so schön wie einst Uli Hoeneß 1976 im EM-Finale von Belgrad. So hat Hoeneß´ Ball, der seitdem einsam im Orbit kreist, jetzt einen Spielkameraden.
Märchenhaft schön das alles. Aber es warnen Erfolgsabsteiger Braunschweig 2014, im Vorjahr der zeitweilige Bundesliga-Tabellenführer Paderborn (jetzt im Zweitliga-Existenzkampf) oder 2007 Alemannia Aachen, als Aufsteiger auch mal Tabellenerster, dann abgestiegen, dann pleite, jetzt Mittelmaß in Liga 4. In Wahrheit ist die Erste Liga doch ein großes süßes Gift, das dich erst betört, dann betäubt und gnadenlos meuchelt. Bernd Müllender
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