: Die SPD kurz vor dem Aufprall
Müntefering geht doch ins Kabinett, Wieczorek-Zeul gibt Parteivize ab, Nahles schließt Rückzug nicht aus. Und Platzeck heißt der neue Parteichef?
AUS BERLIN JENS KÖNIG
Der durchgeknallte Hausphilosoph der Bild-Zeitung, Franz Josef Wagner, hat endlich einmal einen wahren Satz formuliert. In seiner Kolumne „Post von Wagner“ schreibt er einen Brief an Franz Müntefering und bringt darin den Zustand der ruhmreichen Sozialdemokratie auf den Punkt: „Sie waren der Boden der SPD. Seit gestern ist die SPD Luft.“
Genau so ergeht es gerade den hunderttausenden Genossen im ganzen Land, den Spitzenfunktionären in Berlin ganz besonders: Sie haben den Boden unter den Füßen verloren. Sie stürzen im freien Fall nach unten, und je länger sie einen Blick wagen, was da beim Aufprall kommen möge, desto deutlicher sehen sie, dass da nichts ist – der Fall geht ungebremst weiter. Ihr Kanzler Gerd? Abgewählt. Ihr Parteivorsitzender Münte? Hat hingeschmissen. Die große Koalition? Gute Frage. Keiner weiß so recht, was wird.
In dieser Situation ist es fast zwangsläufig, dass alle in der Partei wild durcheinander reden. Die einen begleichen alte Rechnungen, die anderen versuchen die unübersichtliche Situation intellektuell in den Griff zu bekommen, die Dritten denken, ganz Pragmatiker, über einen neuen Parteichef nach. Die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Joachim Poß und Hans-Joachim Hacker etwa fordern den Rücktritt des gesamten Vorstandes. Das eindeutige Votum vom Vortag für Andrea Nahles als Generalsekretärin, das den Rückzug von Müntefering vom Parteivorsitz ausgelöst hatte, bezeichnen beide als „Eklat“. Johannes Kahrs, der Sprecher des „Seeheimer Kreises“, der sein Sprechzentrum schon seit Tagen auf Dauerfeuer gestellt hat, fordert Nahles und die stellvertretende SPD-Chefin Heidemarie Wieczorek-Zeul zum Verzicht auf alle Parteiämter auf und bezeichnet ihr Verhalten wahlweise als „Dummheit“, „Intrige“ oder „Amoklauf“. Die Linken hingegen sind damit beschäftigt, den Schock vom Montag zu verdauen und alle Schuld für die Krise der Partei von sich zu weisen. Sie erklären, dass Nahles nicht nur Stimmen aus ihrem Lager bekommen habe, dass es nicht um einen Linksruck der Sozialdemokratie gehe, sondern um eine politische Grundsatzfrage, nämlich um die der Eigenständigkeit der Partei gegenüber der Regierung. Der stellvertretende Fraktionschef Gernot Erler drückt es so aus: Das „System Franz Müntefering“ sei für den „schwierigen Übergang in die große Koalition“ notwendig gewesen, nicht jedoch für die Zukunft. Der Parteichef habe dieses System, diese „sehr enge Führung“, jedoch als „Dauerstrukturprinzip“ einrichten wollen. Das Ergebnis dieses Konflikts nannte er ein „Missverständnis“.
Das sind natürlich hübsche Formulierungen angesichts dessen, was die meisten in der Partei als Super-GAU bezeichnen. Aber ohnehin sind alle rückwärtsgewandten Erklärungsversuche nur vergossene Milch. Die wirklich wichtigen Fragen passen nicht in dieses kleine Karo. Wer wird neuer Parteichef? Hat dieser auf Anhieb die nötige Autorität, dem Parteitag in zwei Wochen die Zustimmung zur ungeliebten großen Koalition abzuringen? Gibt es überhaupt noch eine Koalition mit der Union, jetzt, da Stoiber nicht mehr will? Natürlich wird auch darüber in der SPD wild diskutiert, aber das dann doch lieber hinter verschlossenen Türen und in diversen Krisenzirkeln. Wobei schon die Frage, wer den neuen Parteichef „aussucht“, wer dafür eigentlich noch die nötige Autorität hat, bei vielen nur ein Achselzucken auslöst. Das kann man so interpretieren: Wahrscheinlich sind es Schröder und Müntefering, aber nichts Genaues weiß man nicht. Das Präsidium jedenfalls ist es nicht. Das kommt am Mittwochabend zusammen, aber bis dahin dürfte diese Personalie schon geklärt sein – zwischen dem Nochkanzler, dem Nochparteivorsitzenden sowie den beiden Kandidaten Matthias Platzeck und Kurt Beck. Präsidium und Vorstand dürfen das dann zur Kenntnis nehmen.
Platzeck und Beck wollten gestern Abend bei einem Treffen in Berlin eine Entscheidung herbeiführen. Die Lage ist also verworren genug, um schon wieder eindeutig zu werden: Entweder Platzeck wird neuer Parteichef oder Beck, der brandenburgische oder der rheinland-pfälzische Ministerpräsident. In der Partei traut man beiden, mit gewissen Abstrichen, den Job zu. Im Moment jedoch spricht mehr für Platzeck als für Beck. Wenn schon Erneuerung an der Parteispitze, dann richtig, sagen die einen, wobei die 51 Jahre von Platzeck und die 56 Jahre von Beck nicht den großen Unterschied ausmachen, sondern das gefühlte Alter: Während Platzeck, Typ Schwiegersohn, wie Mitte vierzig wirkt, schätzen Beck, Typ Provinzvati, die meisten auf Mitte sechzig. Außerdem spricht ein anderer Punkt gegen Beck. Bei den Landtagswahlen im März muss er zu Hause den Ministerpräsidentenposten verteidigen. Wenn er verlieren sollte, steht gleich wieder ein Loser an der Spitze der SPD. Und schließlich hat der politisch flexible, in der Bevölkerung beliebte Platzeck das Zeug zum nächsten SPD-Kanzlerkandidaten – dem cleveren, aber eher bräsigen Beck trauen das nur wenige zu. Nicht ohne Grund also ist für viele Linke, „Netzwerker“ und „Seeheimer“ Platzeck erste Wahl.
Von dieser entscheidenden Personalie hängt alles andere ab: die Stärke der SPD in einer möglichen großen Koalition, die Zusammensetzung der neuen Parteiführung, die politische Ausrichtung der SPD. Die ersten wichtigen Vorentscheidungen sind gestern gefallen. Müntefering hat sich entschieden, doch als Vizekanzler und Arbeitsminister ins Kabinett zu gehen. Das schafft Autorität gegenüber der Union und befreit den neuen Parteichef davon, sich unter dem Druck der ohnehin schwierigen Aufgabe gleich noch ein Regierungsamt zumuten zu müssen. Wieczorek-Zeul stellte ihren Posten als stellvertretende Parteichefin zur Verfügung. „Müntefering hat deutlich gemacht, dass jetzt die jüngere Generation die Aufgaben meistern muss“, sagte sie. „Diesem Generationswechsel will ich nicht im Wege stehen.“ Und Andrea Nahles, die designierte Generalsekretärin, die plötzlich als Sündenbock für Münteferings Rückzug herhalten muss? Sie hat sich verteidigt. „Es ging nicht nur um ein Pöstchen für mich“, sagte sie, „sondern um die Profilierung der SPD.“ Nahles schloss trotzdem nicht aus, auf ihr neues Amt möglicherweise zu verzichten. „Ich halte das alles für möglich.“
Diese Einschätzung trifft im Moment auf vieles in der SPD zu.