: „Nach Weihnachten kippt die Stimmung zu Neuwahlen“
Der Wahlforscher Matthias Jung hält im derzeitigen Chaos gar eine Rückkehr von Gerhard Schröder für möglich. Neuwahlen seien unwahrscheinlich
taz: Herr Jung, in der Union gibt es Gerüchte, dass man Neuwahlen im März anstrebt. Was würden die Bürger dazu sagen, dass die Parteien noch nicht einmal eine Regierung zustande bringen?
Matthias Jung: Für eine seriöse Antwort bräuchte man eigentlich empirische Daten – und die liegen noch nicht vor.
Und unseriös aus der Erfahrung geplaudert?
Eine eindeutige Antwort gibt es nicht, die Sie sich erhoffen. Momentan existiert noch keine Stimmung für Neuwahlen, trotz der Eruption in der SPD und dem Gedonner bei der CSU. Aber alles hängt von den Koalitionsverhandlungen ab – und dem Erscheinungsbild der Parteien. Wenn es bis Weihnachten aus plausiblen Gründen nicht zu einer Regierung kommt, dann kippt die Stimmung Richtung Neuwahlen.
Wer profitiert dann? Werden sich die Wähler enttäuscht von den Volksparteien abwenden?
Sie dürften wohl ein paar Prozente verlieren. Aber auch das lässt sich so generell nicht beantworten. Es kommt darauf an, wie die Volksparteien begründen, dass eine große Koalition scheitern musste.
Bei so viel Chaos: Sind die Parteien überhaupt noch wichtig – oder geht es dann nur noch um Personen?
Die Spitzenkandidaten spielen jetzt schon eine ganz wesentliche Rolle. Ihre Bedeutung ist kaum noch steigerbar. Wenn etwa Schröder wieder antritt …
Schröder?!
Ich halte nichts mehr für ausgeschlossen. Ich bin da sehr vorsichtig geworden.
Aber eine große Koalition wäre doch wohl ausgeschlossen, wenn es Neuwahlen gibt?
Auch das würde ich so apodiktisch nicht sagen. Die Volksparteien würden unter einem viel stärkeren Erfolgsdruck stehen. Schließlich können sie das Parlament nicht ständig auflösen. Aber wir reihen hier ganz viele Wenns hintereinander. Bisher spricht nichts dafür, dass es zu Neuwahlen kommt. Vielleicht verzögert sich der Fahrplan – aber noch gibt es keinen einzigen inhaltlichen Knackpunkt gegen eine große Koalition.
FDP-Chef Westerwelle sieht das wohl anders: Er wirbt nun für eine Jamaika-Koalition.
Er ist aber nicht der entscheidende Akteur.
Schon bei der letzten Wahl kam es zu keiner der Koalitionen, die ursprünglich angetreten waren. Sollten die Parteien nicht künftig auf Koalitionsaussagen verzichten?
Kleine Parteien können keine eigenständige Strategie fahren. Die FDP etwa würde als Wackelkandidat nah an der Fünfprozenthürde entlang schrammen. Durch die Bindung an die Union haben die Liberalen jedoch das Maximum der Stimmen abgezogen. Die Wähler denken viel stärker in Koalitionen als in Parteien – auch wenn sie da gelegentlich enttäuscht werden.
INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN