: Schnellschüsse bringen‘s nicht
NACHGEFRAGT Was ist dran an der Nachricht, es habe „Warnschüsse“ gegen Flüchtlingen an der Grenze zu Österreich gegeben?
In der Sendung „Guten Morgen Deutschland“ verbreitet der Sender die Meldung ab 6 Uhr in Großbuchstaben (SCHÜSSE AN DER GRENZE) und vor allem – als Tatsachenbehauptung. Noch Stunden später behauptet der Nachrichtenableger „RTL Aktuell“ auf seiner Homepage: „Am Grenzübergang Freilassing-Salzburg gaben Polizisten Warnschüsse ab.“
Hat die sogenannte Flüchtlingskrise also eine neue Dimension erreicht?
Nein, wohl nicht. Hier handelt es sich vielmehr um ein Beispiel für das, was passiert, wenn Hysterie das Nachrichtengeschäft erobert. Was den RTL-Kollegen hätte auffallen müssen: Der Ursprung der Nachricht ist windig. Nachts um 1.21 Uhr hatte die Agentur DNF Mediengesellschaft mbh an RTL einen Text mit der fraglichen Information versendet. Darin heißt es wörtlich, aber ohne Quellenangabe: „In Freilassing mussten Polizisten am Montagabend sogar Warnschüsse abgeben.“ RTL übernimmt die Information dennoch ungeprüft. Dann greifen weitere Onlineportale die Nachricht auf – darunter Stern.de, das Neue Deutschland, die Wiener Kronen Zeitung.
Immerhin: Viele nutzen das Wörtchen „offenbar“ oder verweisen auf die Quelle RTL. Das Online-Magazin Vice titelt „Warnschüsse gegen Flüchtlinge: Die Bundespolizei macht ernst“. Darunter, im Bild, sind bewaffnete Polizisten zu sehen. Nur eines passiert wohl nicht an diesem Dienstag: Die eigentliche Quelle, den Polizeireporter Ferdinand Farthofer, ruft offenbar niemand an. Auf Nachfrage der taz sagt er: Nein, er habe selbst keinen Schuss gehört oder gesehen, sondern nur davon erfahren. Wo? Das sagt er nicht. „Aber meine Quellen sind belastbar.“
Die zuständige Polizei Oberbayern-Süd bestreitet dies. Ein Sprecher: „Es hat definitiv keine Schussabgabe gegeben. Weder von der deutschen Landespolizei, noch von der Bundespolizei, noch von Kollegen in Österreich.“
Gemeinhin gilt im Journalismus die einfache Regel: Für eine Nachricht braucht es zwei voneinander unabhängige Quellen. In diesem Fall gibt es keine. Ergo: Die Nachricht ist keine Nachricht. Martin Kaul
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