Wie lebt es sich zwischen Plüschtieren, Holzspielzeug und angeknabberten Keksen?: Am Rand der Wiege tobt der Wahn
Erwachsen
von Martin Reichert
Wie schlagen sich eigentlich Heteros in Mitteleuropa durchs Leben – unter dieser informellen Fragestellung absolvierten mein Freund und ich in den letzten beiden Wochen jene Zeit des Jahres, die gewöhnlich als Urlaub bezeichnet wird. Anstatt in Bettenburgen zu logieren, waren wir „embedded“ in Prag, Wien und Ljubljana – eingebettet in Kleinfamilien, die uns freundlicherweise einen Schlafplatz zur Verfügung gestellt hatten.
In Prag, der ersten Station der Reise, wohnten wir bei einem Architektenpaar mit zwei Kindern, die sich angesichts der allgegenwärtigen Wucht juvenilen Daseinsdrangs entschlossen hatten, auf eine erkennbare Form von Inneneinrichtung zugunsten einer permanenten Kita-Atmosphäre zu verzichten. Wir schliefen und saßen also zwischen Plüschtieren, Holzspielzeug und angeknabberten Keksen. Der Drang befiel mich, mit einer Holzeisenbahn zu spielen und dabei Brumm-brumm-Geräusche von mir zu geben, doch stattdessen sorgten wir lieber für ein warmes Abendessen. Wann hätten die beiden Berufstätigen dafür die Zeit finden können, nachdem sie bis zum späten Abend mit Shuttle-Diensten für die Kids beschäftigt waren. Sport, Musizieren, Freunde in anderen Stadteilen besuchen. Nach den Spaghetti und zwei Litern Rotwein fielen die beiden von einer Sekunde zur anderen in ein verständliches Koma, mit letzter Kraft den Satz herauspressend, dass wir morgen ganz bestimmt zusammen ausgehen würden. Menschen in Geiselhaft.
In Wien trafen wir auf ein Freelancer-Paar, das mit der Erstgeborenen in einer Baustelle wohnte. Während die Dame des Hauses in den Trümmern wandelte, die schreiende Zweijährige auf dem linken Arm balancierend, in der rechten den Laptop haltend, auf dem sie viel später, also mitten in der Nacht, an ihrer Doktorarbeit schreiben würde, fragte sie uns mit dem größtmöglichen Ernst, wie es denn bei UNS BEIDEN mit Kindern aussähe, und mir fiel daraufhin nur ein, zu antworten, dass bei mir mit 42 die biologische Uhr wohl abgelaufen sein dürfte. Sie zuckte nicht einmal mit der Wimper. Menschen in Extremsituationen können nicht mehr klar denken.
Schließlich, in Ljubljana, schliefen wir wieder im eigenen Bett, in der Wohnung meines Freundes. Doch die Heteros kamen nun zu uns. Ein befreundeter Familienvater wollte uns eigentlich nur mal so zum Abendessen besuchen, doch als wir ihn gegen Mitternacht allmählich rausschmeißen wollten, erkannten wir die wahre Absicht seines Besuchs: Seinem Einfamilienhaus im Umland mit Frau und zwei Kindern entkommen, wollte er sich noch ins Nachtleben stürzen. Darf ich bei euch übernachten? Er, Ende dreißig, kam erst morgens um acht Uhr wieder angeschwankt. Auf dem Rückweg war er mehrfach hingefallen, die linke Seite schlammverkrustet. Und die Hausschlüssel hatte er auch verloren, sodass er uns herausklingelte. Menschen auf der Flucht.
Wir beide blicken nun einer Rückkehr in die geordneten Verhältnisse eines schwulen Daseins in jenem Sodom und Gomorrha entgegen, das auch als Berlin bekannt ist. Wir brauchen Urlaub.
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