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Vom Scheitern großer Fragen

Sozialgeschichte Luk Perceval bringt Èmile Zolas Romanzyklus „Die Rougon-Macqaurt“ auf die Thalia-Bühne: als „Trilogie meiner Familie“, angelegt auf stolze drei Jahre

Klettern, abrutschen, schaukeln, fesseln: Zolas Figuren finden keinen Halt   Foto: Armin Smailovic

von Robert Matthies

20 Bände, mehr als 12.000 Seiten: Schon, was den Umfang angeht, war Èmile Zolas Zyklus „Die Rougon-Macqaurt“ eines der ehrgeizigsten Projekte der Literaturgeschichte. Zwischen 1871 und 1893 schrieb der französische Journalist und Autor seine „Natur- und Sozialgeschichte einer Familie im Zweiten Kaiserreich“. Eine wissenschaftlich begründete Familiengeschichte wollte der Naturalist erzählen, die zugleich die „Ereignisse und Gefühle einer ganzen sozialen Epoche schildern“ sollte.

Anhand exemplarischer Figuren erzählt Zola die (Verfalls-)Geschichte zweier Zweige einer Familie: Dem legitimen von ihnen, den bourgeoisen Rougon, stellt er die Unterschichtsvertreter und Bastarde der Macquart gegenüber. Im Verlauf des Zyklus degenerieren beide Zweige, werden Zolas Figuren zu triebgesteuerten Mördern und Ehebrechern, zu geldgierigen Großunternehmern und räuberischen Revolutionären.

Sein Projekt verfolgte Zola akribisch, er recherchierte umfangreich, fertigte Statistiken und Studien von Orten und sozialen Milieus an. Mit wissenschaftlichen Theorien – dem Positivismus Hippolyte Taines, Darwins Evolutionslehre und medizinischen Studien zu Sexualität und Vererbung – wollte Zola den Zusammenhang von Physiologie und sozialem Umfeld erläutern: „das langsame Vererben von Nerven- und Blutsübeln, die in einem Geschlecht als Folge eines ersten organischen Schadens zutage treten“ und zugleich, „wie sich eine Familie, eine kleine Gruppe von Wesen, in einer Gesellschaft verhält“.

Den Menschen beschreibt Zola dabei als determiniert: als tragisches Opfer, dessen Suche nach einem Ausweg aus der Bestimmtheit im Komplex aus Erb­anlagen, sozialem Milieu und historischen Umständen zum Scheitern verurteilt ist. Eingehandelt hat er sich damit schon zu Lebzeiten den Vorwurf einer allzu mechanistischen Herangehensweise.

Heute gilt Zolas positivistischer Naturalismus wissenschaftlich als überholt. Statt von genetischer Determination auszugehen, fordert man im neoliberalen post-genomischen Zeitalter vom Einzelnen, Verantwortung für seine Krankheitsbiografie zu übernehmen: Natur ist nicht mehr Schicksal, sondern Verpflichtung zum klugen Handeln.

Als Spiegel gesellschaftlicher (Verfalls-)Phänomene aber ist Zolas Großprojekt mitnichten gescheitert. Davon zumindest ist Regisseur Luk Perceval überzeugt, der Spezialist, wenn es darum geht, eine erschlagende Textmasse für die Bühne zu kondensieren. Legendär ist seine Eindampfung aller acht Shakes­peare’schen Königsdramen im zwölfstündigen Theatermarathon „Schlachten!“.

Nun bringt der Belgier Zolas Zyklus in einem nicht weniger ambitionierten Projekt als auf drei Jahre angelegte „Trilogie meiner Familie“ auf die Bühne, basierend auf sieben der 20 Romane, die erklärtermaßen in ein neues Verhältnis zueinander gebracht werden sollen. Vor zwei Wochen feierte der erste Teil, „Liebe“, eine viel gelobte Premiere auf der Ruhrtriennale in einer stillgelegten Gießereihalle in Duisburg. Am heutigen Samstag ist er nun erstmals am koproduzierenden Thalia Theater zu sehen.

Natürlich habe Zola in einer Tradition geschrieben, die nicht mehr die unsere sei, sagt Perceval, dessen Interesse am Autor auch mit der eigenen Familiengeschichte verknüpft ist: Sein eigener Großvater, Bergmann, starb an einer Staublunge. Die Erzählungen des Vaters darüber, sagt Perceval, deckten sich überraschend mit Zolas Darstellungen in „Germinal“, dem 13. Band des Zyklus.

Befreit vom altmodischen Stil und als Kaleidoskop sich in immer neue Widersprüche verstrickender Familienschicksale stecke in Zolas Stoff vieles, das sich nicht nur auf gegenwärtige Probleme beziehen lasse, sondern auch immer noch Aufschluss gebe über die Natur des Menschen. Frustriert von der Liebe und vom Scheitern des Anspruchs, mit Hilfe medizinisch-wissenschaftlicher Theorien die Wurzel allen Übels und damit den Schlüssel zum Glück und zur Verbesserung des Menschen zu finden, verschiebe sich die Hoffnung auf das Geld und die technologische Entwicklung, sagt Perceval. Aber auch das werde sich im zweiten Teil „Geld“ als Glaube erweisen, der zum Scheitern verurteilt sei.

Im dritten Teil, „Hunger“, will er deshalb vorführen, dass alles Ringen um eine Synthese der Widersprüche am ungreifbaren Kern des Menschen vorbeigeht. Erst damit komme die Beschäftigung mit Zola in der Gegenwart an. Denn all die sozialen Probleme, die der (Neo-)Kolonialismus lange hinter den Grenzen des europäischen Projekts habe verstecken können, tauchten nun, nicht zuletzt mit der Flüchtlingskrise wieder am Horizont auf: als Beweis dafür, dass die ökonomisch-technologische Entwicklung der letzten 150 Jahre, all die großen Fragen und die groß angelegten Versuche, sie zu lösen, nichts geändert haben an der fundamentalen Not des Menschen, an seiner Ausbeutung.

Das Glück sucht der Yoga-Lehrer Perceval deshalb in Zen-Weisheiten: Der Finger, der auf den Mond zeigt, ist nicht der Mond; die Antwort auf die menschliche Not schlicht: Menschlichkeit, Empathie – nicht große Fragen, sondern kleine praktische Lösungen. Die Rechnung heute zu begleichen: keine Frage von Geld und Warentausch, sondern doch wieder nur die immer offene Frage der Liebe.

Premiere: Sa, 26. 9., 20 Uhr, Thalia Theater. Nächste Aufführungen: 27. 9., 2.+ 9. 10.

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