: Was sind wir nur für Zombies?
Theater Das Stück „Aktion N! Ein Neuköllner NS-Untersuchungsausschuss“ im Heimathafen Neukölln nimmt die Vergangenheit des Hauses in den Blick
Eine Frau sitzt am Küchentisch und trägt ihre Habseligkeiten in ein Formular ein. Sie besäße noch drei Bügeleisen und zehn Handtücher. Jeden Löffel und jede Serviette zählt sie auf. Die Liste wird immer länger. Es ist eine grauenhafte Szene, wenn man weiß, dass sie in wenigen Wochen tot sein wird. Die Nazis werden sie ermorden, ihre Wohnung räumen und ihren Hausrat versteigern.
Solche Auktionen fanden in dem Saal statt, wo das Theaterstück „Aktion N! Ein Neuköllner NS-Untersuchungsausschuss“ am Freitag seine Premiere hatte. Im städtischen Saalbau Neukölln lagerten die Nazis den Besitz von deportierten Juden, um ihn zu verramschen. Seit 2009 bespielt der Heimathafen Neukölln den Ort. Eine Arbeitsgruppe formte sich, die zu dem Thema recherchierte. Daraus entstand unter der Leitung von Stefanie Aehnelt eine Theater-Dokumentation.
Es ist ein Bürgerprojekt und Laientheater. An einigen Stellen konzentrieren sich die DarstellerInnen mehr auf ihren Text als auf ihre Rolle, manchmal vergessen sie ihn. Eine beeindruckende Dynamik entwickeln sie, als Juliane Köster als NS-Beamtin eine Passage auf Bürokratendeutsch herunterrattert und die anderen auf unsichtbaren Schreibmaschinen mittippen.
Sehenswert ist das Stück schon allein wegen der aufwendigen Recherche, die ihm zugrunde liegt. Die DarstellerInnen berichten von ihren Nachforschungen in Archiven, stellen Szenen nach, projizieren ein Skype-Interview mit einem Zeitzeugen an die Wand. Das Grundgerüst bilden die Geschichten von fünf jüdischen Familien aus Neukölln: Max und Gertrud Mandel, Hedwig und Emil Wolff, Simon Luft, Emil und Erna Pese, Paul Leske – sie alle mussten eine Vermögenserklärung abgeben, bevor die Gestapo sie in ein Vernichtungslager transportierte.
Trotz der Dramatik ist es witzig, als die DarstellerInnen durch die Zuschauerreihen laufen und nach Gegenständen suchen, die sie verhökern könnten. Sie wollen damit die Schulden der Bundesregierung zahlen. Der Wert des Raubguts betrage insgesamt 220 Milliarden US-Dollar, rechnet Tatiana Heide vor, doch Deutschland habe nur 71 Millionen an die Verwandten der bestohlenen Juden zurückgezahlt.
Mehrmals vergleichen sie das Verhalten gegenüber Verfolgten damals mit der Behandlung heutiger Flüchtlinge. Viele würden ein betroffenes Gesicht aufsetzen, doch nichts tun. „Was sind wir nur für Zombies?“, fragt Köster. Hervorragend spielt Carina Huestegge eine Wahnsinnige, die zusammenklappt, als sie vom Auschwitz-Prozess liest. „Jetzt lieg ich hier und fühl mich schuldig!“, kreischt sie.
Ein höchst trauriger und zugleich poetischer Moment ist, als ein Mann von einem versteigerten Plüschsofa erzählt. Eine Tänzerin bewegt sich dazu elegant um einen Stuhl und streichelt ihn. In einer Szene stellt die Gruppe Fotografien von BesucherInnen einer Auktion nach. Es ist verstörend, wie ausgelassen und fröhlich sie in die Kamera blicken. Wie Raubtiere gieren sie nach den günstigen Möbeln. Julika Bickel
Noch bis 29. Oktober
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