: „Über Gentrifizierung freuen“
URBANITÄT Die Gedanken der Stadtforscherin Martina Löw kreisen um den öffentlichen Raum. Ein Gespräch über die Eigenlogik Frankfurts, überflüssige Gästetoiletten und den Bedeutungsverlust der Nationalstaaten
■ Person: 1965 in Würzburg geboren, aufgewachsen im Kölner Raum. Vater war Diakon in der katholischen Kirche, Mutter hatte eine Textilboutique. Ledig, keine Kinder.
■ Beruf: Martina Löw ist seit Januar 2002 Professorin für Soziologie an der TU Darmstadt mit den Schwerpunkten raumbezogene Gesellschaftsanalyse, Stadt- und Regionalsoziologie sowie Frauen- und Geschlechterforschung.
■ Ehre: Im Jahr 2000 erhielt sie den Christian-Wolff-Preis für das bisherige Werk, insbesondere für ihre Habilitationsschrift zur Raumsoziologie. Seit 2011 ist sie Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
GESPRÄCH ALEM GRABOVAC
Es schneit: Die Wolkenkratzer des Frankfurter Bankenviertels erscheinen im Zugfenster wie in einer dieser niedlichen kleinen Schneekugeln. Vom Frankfurter Hauptbahnhof aus geht es mit der Tram in das Stadtviertel Nordend. Die Stadtforscherin Martina Löw wohnt dort in einer ausgebauten Dachgeschosswohnung. Frau Löw empfängt mich im Nadelstreifenanzug. Von ihrer Wohnung aus kann man den Blick über die verschneiten Häuserdächer des Nordends schweifen lassen.
sonntaz: Frau Löw, schöner Anzug, den Sie da tragen.
Martina Löw: Danke. Ich habe, bevor ich nach Frankfurt gezogen bin, zehn Jahre in Berlin gewohnt. Wenn ich am Berliner Hermannplatz mit einem schönen Anzug ausgestiegen bin, dann habe ich immer wieder Kommentare bekommen. Da haben die Leute gesagt: „Hey, schicker Anzug, oder wat.“ In Berlin war dieser Anzug etwas Außergewöhnliches, während er hier in Frankfurt gar nicht auffällt.
Der Berliner Chic ist Schlabberhemd mit Jogginghose.
Die Toleranzgrenze hinsichtlich der Kleidungswahl ist in Berlin jedenfalls größer als in Frankfurt.
Die Städte, heißt es, verlieren durch die Globalisierung ihre Eigenart. Sie betonen dagegen die Eigenlogik der Städte.
Es ist mittlerweile unbestritten, dass Globalisierung mit einem Prozess der Lokalisierung einhergeht. Sprich: Neue Identitätsbemühungen, Herausstellen von Besonderheiten, eine Suche nach Verwurzelung. Sie dürfen nicht vergessen, dass die Einkaufsstraßen mit ihren globalen Handelsketten nicht die Stadt sind. Jenseits dieser Straßen merkt man sofort – siehe den bereits erwähnten Kleidungsstil – ob man in Frankfurt oder Berlin ist.
Das ist die Eigenlogik?
Wir machen gerade, unter anderem anhand von Friseursalons, ein Forschungsprojekt über den Vergleich von Frankfurt und Dortmund. Frankfurt ist eine Stadt, in der Zeit eine sehr große Rolle spielt. Selbst bei den Eckfriseuren wird in Frankfurt der Fokus deutlich auf Zeit gesetzt. Die Leute reden beim Friseur über Zeit, man versucht, Zeit zu effektivieren.
Und in Dortmund?
Zeit wird in Dortmund nicht problematisiert. Hier steht der Raum im Mittelpunkt. Beim Friseur denkt man darüber nach, wie man durch die Anordnung der Stühle eine persönliche Atmosphäre schafft. Wie kommen die Kunden ins Gespräch?
Sie haben einmal gesagt, dass sich die unterschiedlichen Eigenlogiken der Städte in die Körper ihrer Bewohner einschreiben.
Das plakativste Beispiel ist die Schrittgeschwindigkeit. In München rennen die Bewohner der U-Bahn weniger hinterher als in Berlin, obwohl in Berlin die U-Bahn in einem viel schnelleren Minutentakt fährt. Das hat etwas mit der Selbstwahrnehmung der Berliner als schnelle Großstädter zu tun. Die Idee der Beschleunigung ist bei den Berlinern internalisiert, man fügt sich ein in das Tempo seiner Stadt.
In den Neunzigern hat Saskia Sassen den Begriff der Global Cities geprägt. Global Cities stehen im Zentrum eines neuartigen, transnationalen Städtesystems. Wir sind hier in Frankfurt – ist es nicht so, dass die Menschen im Bankenviertel eher von den Kleidungskodexen und Verhaltensweisen anderer Global Cities wie New York oder London geprägt werden als von der Stadt Frankfurt?
Man kann gut zeigen, dass Manager, die oft umziehen, sich in ihrem Habitus der jeweiligen Stadt anpassen. Sie kleiden sich anders, nehmen andere Essgewohnheiten an, entwickeln andere Relevanzsysteme, bekommen einen anderen Blick auf Fragen wie Ethnizität, wenn sie zum Beispiel von Frankfurt nach Singapur wechseln. Wir werden durch unser räumliches Umfeld geprägt. Im normalen Alltag geht man eben nicht nur in den Banker Club, sondern auch in die lokalen Restaurants, bewegt sich durch die Stadt.
Der französische Philosoph Paul Virilio hat gar das Ende des Raumes erklärt. Die modernen Telekommunikations- und Transportmöglichkeiten haben das Zentrum, die Peripherie, das Land und die Stadt abgeschafft. Es gibt nur noch eine globale Masse, die im Cyberspace zu Hause ist.
Das war eine schöne Provokation. Ich denke, dass es gute Hinweise darauf gibt, dass die Bedeutung von Raum überhaupt nicht abgenommen hat. Raum ist etwas, das immer wieder neu für uns relevant wird. Früher war es vielleicht die Differenz zwischen Stadt und Land. Jetzt denken wir eher in der Differenzierung Stadt, Nationalstaat, globale Welt. Unsere raumbezogenen Fragen sind: Was ist Identität, was ist Heimat?
Wo finden die Digital Natives in der Stadt ihre Heimat?
Auch die Digital Natives sind Menschen mit Körpern und haben damit eine räumliche Existenz. Natürlich machen die sich auch Sorgen um ihre Wohnungen, fragen sich, wie sie ihr Schlafzimmer einrichten sollen und ob sie lieber in Paderborn oder in Berlin leben wollen.
Die Städte kämpfen global um Touristen und hoch qualifizierte Arbeitnehmer. Sie haben diesen Wettbewerb als einen „Kampf der Bilder“ beschrieben.
In manchen Städten haben wir Mietpreissteigerungen von bis zu achtzehn Prozent, während es in anderen Städten wie zum Beispiel Mannheim, Bielefeld oder Bremerhaven ein Minus von bis zu sechzehn Prozent gibt. Man hofft auf touristische Einnahmequellen, daneben gibt es aber auch einen Kampf um die Bewohner. Jede Stadt versucht attraktive Bilder zu platzieren, die den Leuten Lust auf diese Stadt machen soll. Wir sind mittlerweile einfach sehr bildorientiert geworden. So versuchen die Städte zum Beispiel mit Sendungen wie dem „Tatort“ auf sich aufmerksam zu machen. Das ist ein sehr umkämpfter Bereich: Die Städte kämpfen um den „Tatort“, da sie sich dadurch einer sehr breiten Öffentlichkeit präsentieren können.
Und was für Bilder versucht man da zu verkaufen?
Man versucht die Heterogenität der Stadt ins Bild zu setzen. Widersprüchliches und Vielfältiges wird inszeniert. Migrantische Kulturen neben Kinderparadiesen, moderne Architektur neben grünen Parks. Die Bilder versuchen anzuknüpfen an Großstadtimaginationen – in diesem Sinne sind sie homogen, weil sie die immergleiche Widersprüchlichkeit und Vielfalt zeigen. Gleichzeitig versuchen sie das Besondere darzustellen. Man kann das auch an Postkarten sehr gut festmachen: München ist die Großstadt mit Herz, bei der man im Hintergrund immer die Berge sieht. Frankfurt schmückt sich mit einer Kombination aus alt und modern, vorne die alten Fachwerkhäuser und dahinter die Hochhäuser des Bankenviertels. Und Berlin ist arm und sexy.
Stichwort Gentrifizierung. Gab es die in den Achtzigern und Neunzigern nicht? Weshalb hat sich dieser Begriff erst in den Nullerjahren durchgesetzt?
Wir leben in einer Phase, in der das Wohnen in den Innenstädten wieder attraktiver geworden ist. Dadurch sind auch die Mieten, jedenfalls in den Städten, in denen viele leben möchten, stark gestiegen. Es gibt also eine ganz neue Aufmerksamkeit für das Problem unbezahlbarer Wohnräume. Und die Erklärung für dieses Problem wird in dem Begriff Gentrifizierung gebündelt.
Ist Gentrifizierung per se etwas Schlechtes?
Die Idee, dass Gentrifizierung das Böse ist, wie so häufig berichtet wird, finde ich sehr problematisch. In vielen Stadtteilen würden sich die Bewohner über Gentrifizierung freuen. Diese Stadtteile zerfallen. Die Bewohner, die dort leben, werden diskriminiert, weil sie in einer schlechten Gegend wohnen. Dass es zum Beispiel in Offenbach erste Anzeichen von Gentrifizierung in einzelnen Stadtteilen gibt, macht alle froh.
Wo ist dann das Problem?
Es wird meistens ein Prozess in Gang gesetzt, an dessen Ende dort nur noch Wohlhabende leben, die sich die hohen Mieten leisten können. Die erste Phase von Gentrifizierung ist die Heterogenisierung eines Stadtteils. Das wollen alle, das löst diese Enklaven auf, in denen arme, häufig migrantische Bevölkerungen leben. Diese Stadtteile bieten ihren Einwohnern wenig Chancen. Doch dann kippt diese an sich positive Entwicklung. Die ursprünglichen Einwohner werden verdrängt und die Quartiere werden homogen und dadurch auch langweilig.
Was kann die Politik gegen diese negativen Auswirkungen tun?
Die Stadt kann selber Wohnungen halten. Der Bereich des sozialen Wohnungsbaus ist in den letzten Jahren jedoch gesunken. In München gibt es einen interessanten Ansatz: Da hat die Stadt ein Vorkaufsrecht in bestimmten Bezirken auf die Wohnungen. Die Stadt kann selber Vermieter sein und damit Mieten kontrollieren. Das Problem an der Stelle ist, dass die Sanierung der Wohnungen oft so teuer ist, dass die Stadt immer draufzahlt. Durch die niedrigen Mieten können sie die teuren Sanierungen nicht ausgleichen. Die Städte allein können das nicht leisten, hier müsste der Bund einspringen, um die Städte zu unterstützen.
Was kann die Politik außerdem tun?
Vielleicht müsste man stärker darüber nachdenken, wie man in Deutschland günstiger bauen kann und trotzdem gute Resultate bekommt. Kann man vielleicht nicht doch noch mal darüber nachdenken, ob bestimmte Anforderungen an Wohnungen auch gesenkt werden können? Und man damit trotzdem zufrieden ist.
Also zurück zur Platte aus den Sechzigern?
Ja, aber vielleicht auch eine größere Bereitschaft, mit anderen Baumaterialien zu arbeiten. Und vielleicht reicht doch ein Bad ohne eine zusätzliche Toilette? Wie kann man Ansprüche wieder zurückfahren, damit man günstiger bauen und somit auch günstiger wohnen kann.
Was halten Sie von den neuen, am Reißbrett entworfenen Städten in China?
Zunächst muss man einmal feststellen, dass sie offensichtlich für viele chinesische Bürger und Bürgerinnen attraktiv sind, weil sie im Unterschied zu uns glauben, dass technische Innovation auch ein Plus an Lebensqualität mit sich bringt. Wir Europäer glauben immer, dass die Stadt ein Herz, eine Altstadt, ein Zentrum braucht. Aber viele Asiaten brauchen das gar nicht.
Werden die alten europäischen Städte wie Rom, Prag oder Wien in Zukunft eine Art Disneyland für asiatische Touristen?
Es ist natürlich schon eine interessante Frage, ob die Rolle europäischer Städte perspektivisch die ist, eine Vergangenheitsvergewisserung für die Menschen aus anderen Regionen der Welt zu sein. Ich würde das jedoch nicht als Disneyfizierung bezeichnen, sondern ich glaube wirklich, dass das Verhältnis zur Vergangenheit für Menschen unterschiedlich wichtig ist. Eine von Europas Stärken ist, sich des historischen Erbes bewusst zu sein. Aber das ist eben auch ein Schwachpunkt, weil wir dadurch zum Beispiel in Frankfurt im Zentrum lieber Fachwerkhäuser konstruieren, als jungen Architekten eine Chance zu geben.
Der Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses – ein Fehler?
Das Berliner Schloss ist sicherlich ein ganz wichtiger Bestandteil einer historischen Selbstvergewisserung in Berlin. Ich bin mir aber nicht sicher, ob dieser Ort funktionieren wird. Mir ist dieser Schlossbau nicht heterogen genug. Also die Spannung, die in Berlin steckt, durch die unterschiedlichen Gruppen, die diese Stadt ausmachen, die kommt an diesem zentralen Ort zu wenig zur Geltung. Diese Suche nach Identität, die ja auch eine Suche nach Eindeutigkeit ist, verhindert oft den Blick darauf, dass es Identitäten immer nur relational gibt.
Was halten Sie von der Occupy-Bewegung?
Es war ein toller Prozess, dass gerade viele junge Leute zentrale Orte in der Stadt vielleicht nicht erobert, aber immerhin besetzt haben. Ich fand diese Art des Protestes sehr interessant und auch wirkungsstark. Er hat alle zum Nachdenken gebracht. Wem gehören die Innenstädte? Die Frage der politischen Repräsentation steht neu zur Disposition. Das kann man auch bei Großprojekten wie der Elbphilharmonie in Hamburg oder Stuttgart 21 sehen. Sind Politiker und Architekten überhaupt noch legitimiert, im öffentlichen Interesse zu bauen? Die Bürger wollen die Zukunft ihrer Stadt mitbestimmen.
Sie arbeiten in Darmstadt, leben in Frankfurt. Was mögen Sie an Frankfurt?
Ich mag, dass hier viele Menschen Verantwortung für die Stadt übernehmen. Bürgerschaftliches Engagement ist ganz wichtig – es gibt zum Beispiel viele Stiftungen. Gerade im Vergleich zu Berlin finde ich es unglaublich angenehm, dass hier die Idee der eigenen Gestaltung sehr groß geschrieben wird. Dadurch bleibt die Stadt in Bewegung und ich nehme sie nicht als etwas von mir Getrenntes wahr, sondern als Teil meines Lebens.
Was finden Sie nicht so gut?
Man hat hier nicht so stark das Gefühl, am Puls der Zeit zu leben. Es ist auch ein bisschen provinziell.
Was bezeichnen Sie als Heimat?
Ich habe Gefühle von Heimat am ehesten im fränkischen Raum, weil meine Mutter aus Franken kam. Ihre emotionale Bindung an Franken ist etwas, das mir ein Leben lang als etwas Heimisches geblieben ist.
Wovon träumen Sie?
Ich würde gerne einmal ein innovatives interdisziplinäres Stadtforschungszentrum leiten. Ich möchte gerne einmal in New York leben, ich möchte gerne noch viel von der Welt kennenlernen.
Was fehlt Ihnen zum Glück?
Ich bin oft sehr glücklich.
Was ertragen Sie nur mit Humor?
Langweilige Sitzungen, Stapel von Klausuren, die ich korrigieren muss.
Welche Hoffnung haben Sie im Verlauf Ihres Lebens aufgegeben?
Noch Kinder zu bekommen. Ansonsten gebe ich nicht gerne Hoffnungen auf.
Glauben Sie an Gott?
Lassen wir die Frage lieber weg. Die Antwort ist kompliziert.
Wie wird die Zukunft der Stadt aussehen?
Es gibt nicht die Zukunft der Stadt, sondern nur die Zukunft von Städten, die sehr, sehr unterschiedlich sein wird. Sicherlich wird das Thema Auto irgendwann vorbei sein. Selbstfahrende Kapseln und Bänder durch die Stadt werden das Auto ersetzen, die ja heute schon technisch möglich sind. Und ich glaube, dass die Städte wichtiger als die Nationalstaaten werden, ich glaube, dass es neben den globalen Prozessen eher wieder eine Orientierung an den lokalen Einheiten gibt und dass damit die Nationalstaaten vielleicht sogar bedeutungslos werden.
■ Alem Grabovac, 39, sonntaz-Autor, würde auch gerne mal – wie so viele Menschen – für ein paar Jahre in New York leben