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Am Ende gewinnt Deutschland

MIGRATION Anders als 1993 gibt es einen breiten Konsens für die Aufnahme von Flüchtlingen. Die Standortnationalisten haben ihren Nutzen entdeckt

Martin Reeh

ist Ressortleiter Inland der taz und flüchtete mit 18 aus der deutschen Provinz zunächst nach München, dann nach Berlin. Von ihm erschien zuletzt an dieser Stelle ein Interview über die Einwanderung von Israelis nach Deutschland: „Israel wird ­israelischer“ (23. 4. 2015).

Nur zur Erinnerung: Noch im Juni drohte die Bundesregierung Griechenland mit dem Rauswurf aus dem Euro. Syriza stimmte, unter Beifall der SPD, notgedrungen einer neuen Runde harter Austeritätsmaßnahmen zu. Die BILD-Zeitung hetzte, die öffentliche Stimmung richtete sich gegen Griechenland. Das hässliche Deutschland war wieder da, der Rest Europas geschockt.

Jetzt ist Deutschland Vorreiter in der Flüchtlingspolitik. Die Merkel-Regierung spricht offen davon, dass 2015 800.000 Flüchtlinge kommen werden und dass Deutschland damit nicht überfordert sei. Sie stellt Unterkünfte in großer Zahl zur Verfügung. Die Bevölkerung ist hilfsbereit, Nazis und AfD-Anhänger stehen außerhalb des nationalen Konsenses.

Mal harter Hund, mal Vorbild. Das erscheint wenig konsistent. Aber in der Politik der Bundesregierung gibt es mehr Kontinuität als Bruch. Um das zu verstehen, hilft es Gerhard Schröders Beitrag in der vorletzten Welt am Sonntag zu lesen.

Schröder will „Agenda 2020“

Der Alt-Kanzler, seit der Agenda 2010 bekanntlich ein Anhänger von Schocktherapien, begrüßt den Flüchtlingsansturm dieses Sommers. Er soll demografische Veränderungen in Deutschland erzwingen, den Maßnahmen wie erleichterte Einwanderungsregeln oder das Elterngeld nicht bewirkt haben. Schröder fordert eine „Agenda 2020“ mit dem Kern „moderne Zuwanderungspolitik“.

Sein Argumentation geht, kurz zusammengefasst, so: In diesem Jahr werden Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland kommen, in den nächsten Jahren ebenfalls. Europa könne sich nicht abschotten, weder im Mittelmeer noch sonst wo. Für Flüchtlinge, für die das Asylrecht nicht gilt, etwa die vom Westbalkan, brauche es ein Einwanderungsrecht. Grund sei vor allem der demographische Faktor: In Deutschland würden 2050 zwölf Millionen Erwerbstätige fehlen, was erhebliche Auswirkungen auf die Nachfrage und die internationale Wettbewerbsfähigkeit habe.

Neu ist: Flüchtlinge sollen die deutschen Demografieprobleme lösen, ebenso eine gezielte Einwanderung vom Balkan. Schröder formuliert vielleicht am prägnantesten, aber SPD-Parteichef Sigmar Gabriel, Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt argumentieren im selben Tenor. Selbst aus der CDU klingt es ähnlich, wenn auch vorsichtiger mit Rücksicht auf die eigene Klientel. Die Wirtschaft betont ihr Interesse an Flüchtlingen.

Deutschland, und damit sind wir bei den Kontinuitäten, hat in den letzten Jahren davon profitiert, dass es seine wirtschaftlichen Probleme auf Kosten anderer gelöst hat. Schröder machte unter Rot-Grün mit der Agenda 2010 Deutschland zum Niedriglohnstandort und setzte auf eine aggressive Exportpolitik zum Nachteil der EU-Nachbarn. In der Krise ab 2008 gönnte sich Deutschland keynesianische Maßnahmen, Südeuropa hingegen wurde auch auf deutschen Druck eine harte Austeritätspolitik auferlegt. Das beförderte weitere Investitionen in Deutschland – und die Auswanderung junger arbeitsloser Spanier und Griechen in die Bundesrepublik. Weil die aber nicht ausreicht, um das deutsche Demografieproblem zu lösen, soll nun die Einwanderung von Asylbewerbern und Balkan-Bewohnern dazu beitragen. Um das Zitat von Gary Lineker über deutschen Fußball abzuwandeln: Politik ist, wenn am Ende immer Deutschland gewinnt. Und die anderen verlieren.

Schröder suggeriert, dass mit der Beschäftigung von Westbalkan-Migranten auch ihren Herkunftsländern gedient wäre. Natürlich wird er wissen, dass es nicht so einfach ist. Und wenn nicht, müsste er nur bei der parteinahen Friedrich-Ebert-Stiftung anrufen, die gerade eine Studie über „Brain Drain/Brain Gain“ erstellt, also über Verluste und Gewinne durch Fachkräfteabwanderung bzw. -zuzug. Nicht für den Westbalkan, nur für EU-Staaten. Hier sind die Befunde eindeutig: Deutschland hat ebenso wie Großbritannien von der Einwanderung von Fachkräften profitiert, krisengeschüttelte Staaten wie Lettland und Spanien leiden unter einem „Brain Drain“, der die Krise weiter verschlimmert. Das neoliberale Vorzeigemodell Lettland erleidet demnach etwa einen Verlust von bis zu neun Prozent des Wachstumspotenzials aufgrund von Emigration.

Céline Teney von der Uni Bremen forderte bei der Vorstellung der Studie eine Regelung des Fachkräfteproblems auf europäischer Ebene. Deutschland hat daran, ebenso wie an Regeln für seinen Export auf EU-Ebene, kein Interesse, fordert gleichzeitig aber eine EU-weite Regelung des Flüchtlingsproblems. Aber warum sollten Staaten in Ost- und Südeuropa, die mit den Folgen deutscher Interessenpolitik auf anderen Ebenen zu kämpfen haben, in dieser Frage von ihren Interessen absehen?

Um Fluchtursachen kümmern

Krisengeschüttelte Staaten wie Lettland und Spanien leiden unter einem „Brain Drain“

Was heißt das für die deutschen Unterstützer der Flüchtlinge? Erstens wäre es gut, nähmen sie zur Kenntnis, dass die Situation eine andere als 1992/93 ist, als weite Teile der politischen Elite gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen waren. Zweitens sollten sie darauf verzichten, für die Aufnahme von Asylbewerbern und Einwanderern mit Argumenten des nationalen Interesses zu werben. Und drittens wäre es gut, sie kümmerten sich um die Fluchtursachen ebenso wie um die Flüchtlinge.

Möglicherweise hätte frühzeitiger Druck auf die Bundesregierung für eine Flugverbotszone über Syrien Fluchtbewegungen verhindern können. Und wem das zu militärisch gedacht ist: Druck auf die Bundesregierung für eine Wirtschaftspolitik, die dem Süden und Osten Europas eine Perspektive gibt, könnte einen guten Teil der Migration von dort verhindern.

Würde sich die Flüchtlingsbewegung so ausrichten, bekämen wir eine spannende Debatte unter denen, die jetzt für Flüchtlinge und Migranten eintreten: Auf der einen Seite die Standortnationalisten in der SPD und anderswo, die die Situation in den Krisenstaaten Afrikas, des Nahen Ostens und Europas für Deutschland ausnutzen möchten. Auf der anderen diejenigen, denen auch die Lage in der Herkunftsländern am Herzen liegt. Und sich deswegen darum kümmern, dass Flüchtlinge nicht Flüchtlinge und Einwanderer nicht Einwanderer werden müssen. Martin Reeh

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