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Streetfood Was Gerhard Schröder die Currywurst bei Konnopke, war Bruno Kreisky die Burenwurst bei Leo. Zu Besuch in Wiens berühmtester ImbissbudeAuf „a haaße“

Aus Wien Ralf Leonhard

Welche Bedeutung der Würstelstand für die Ernährung der Wienerinnen und Wiener hat, kann nur ermessen, wer einmal nach Mitternacht die Schlangen vor „Würstelstand Leo“ gesehen hat. Auf einer Verkehrsinsel zwischen Döblinger Gürtel und Nußdorfer Straße steht die kaum sechs Quadratmeter große Bude. Die U-Bahn, hier zwei Stockwerke über dem Straßenniveau geführt, macht donnernd auf sich aufmerksam. Wenn die Ampel am Gürtel auf Grün schaltet, rauscht der Verkehr lautstark vorbei. Nicht wirklich heimelig. Trotzdem ist die Lokalität einer der Hotspots des sozialen Lebens in Wien.

Am Nachmittag geht es noch eher gemütlich zu. Günter Eichelberger lässt sich das dritte Bier des Nachmittags aus dem Kühlfach reichen, extra kalt. Er und sein Freund Erich sind hier Stammkunden. Beide wohnen gleich ums Eck. Günter ist mit 52 Jahren Frührentner. Er entblößt die von einer Herzoperation zeugende Narbe unter dem T-Shirt, um seine Arbeitsunfähigkeit unter Beweis zu stellen.

Günter versteht das ärztliche Rauchverbot so, dass er keine Zigaretten kaufen darf. Aber alle anderen, vom Freund Erich angefangen bis zum Würstelverkäufer Patrick, schnorrt er an. Günter, auch an einem kühlen Nachmittag nur mit grauem T-Shirt, dünnen Shorts und Plastiklatschen bekleidet, fühlt sich sichtlich wohl. Er ist seit 31 Jahren Kunde bei Leo.

Der Imbiss gilt als der älteste Würstelstand Wiens. Leo Mlynek, ein Kellner, hat ihn 1928 gegründet, damals noch als mobilen Verkaufsstand, den er vor der Auge-Gottes-Apotheke am Eck aufbaute. Das Geschäft wird inzwischen in dritter Generation von der Enkelin Vera Tondl betrieben, die neben der Apotheke in einem engen Geschäftslokal residiert. Die blonde Endfünfzigerin gilt als resolut. Und sie betreibt ihr Gewerbe mit Leib und Seele.

Würstelstände bedürfen einer eigenen Konzession. Die berechtigt etwa zum Ausschank von Bier, aber nicht von Wein. Streng genommen. Und während Gaststätten um 2 Uhr nachts schließen müssen, kann man bei Leo bis 4 Uhr früh eine heiße Bratwurst bekommen.

Die Stunden nach Mitternacht sind die umsatzstärksten. „Da kommen die Leute aus den Diskos, Rettungsfahrer, Nachtarbeiter“, sagt Vera Tondl. Und auch aus Restaurants und Gasthäusern, wo die warme Küche lange vor Mitternacht ihren Betrieb einstellt, kommt das Personal nach Dienst gerne auf eine „Haaße“ oder eine „Eitrige mit Bugl“ vorbei. Die „Haaße“ (Heiße) ist die Burenwurst, ein grobe Brühwurst, die nur im Wasser erhitzt wird. Den Namen „Eitrige“ trägt die Käsekrainer, weil beim Braten die weißen Käseimplantate platzen. Unter Bugl versteht man in Wien das, was man im Hochdeutschen Kante nennt, also das Brotende.

Auch wenn die lokale Terminologie nicht zwingend appetitanregend wirkt, wird am Würstelstand längst keine Ware minderer Qualität ausgegeben. Schon Vera Tondls Vater begann in den 1970er Jahren auf Qualität zu setzen. Damals wurde wegen der aus den USA hereinbrechenden Fastfoodkultur das Ende des traditionellen Würstelstands vorausgesagt. Vera Tondl kauft heute die Würste bei verschiedenen Fleischhauern ein, denn „der eine macht die Käsekrainer besser, der andere die Bratwurst“. So konnte man auch der wachsenden Konkurrenz der Döner-Buden trotzen. Früher, so erinnert sich Frau Tondl mit leichter Wehmut, habe es eine Art Gebietsschutz gegeben. Aber jetzt könne man sich nicht dagegen wehren, „wenn aus einem Maronibrater plötzlich ein Kebab-Stand wird“. Da helfe nur die Qualität. Fette Würste aus minderwertigem Fleisch gibt es bei ihr schon lange nicht mehr.

Vera Tondl lässt sich auch schon mal was einfallen, um die Kundschaft zu halten. Vor acht Jahren erfand sie die „Big Mama“ – eine Käsekrainer von einem halben Kilo, die als Gruppenmahlzeit für zwei bis vier Personen gedacht war. Die Erfinderin hat aber schon beobachtet, wie junge Männer die gewaltige Portion ganz gegen diese Intention allein verputzen. Seit an den Wiener Unis zunehmend Deutsche eingeschrieben sind, sieht man sich bei Leo gezwungen, auch die Currywurst im Angebot zu haben.

Allerdings wird sie mit selbst entwickelter Currysauce serviert, die von Vera Tondl so lange verfeinert wurde, bis sie ihr selber schmeckte. Dem neuesten Trend gehorchend gibt es seit einigen Monaten auch vegane Würste aus Soja – wahlweise im Hotdog-Weckerl oder ganz puristisch auf Salat.

Die Stunden nach Mitternacht sind die umsatzstärksten. „Da kommen die Leute aus den Diskos, Rettungsfahrer, Nachtarbeiter“, sagt Vera Tondl, die Inhaberin

Diese Neuerungen haben auch die Medien angelockt. Die Einführung von Big Mama wurde von einem lokalen Privatkanal dokumentiert. Selbst aus Israel und Japan seien schon TV-Teams da gewesen. So erklärt sich, dass jüngst ein ganzer Reisebus aus Tel Aviv am Würstelstand hielt. Und Günter und Erich erinnern sich, dass sie zwei italienischen Studentinnen für eine Feldforschung als Interviewpartner zur Verfügung standen.

Nicht alle Stammgäste kommen so regelmäßig wie die beiden. Aber Vera Tondl schätzt, dass die Laufkundschaft nur ein Drittel des Publikums ausmacht. Außer am Wochenende.

Der Würstelstand fungiert als eine Art sozialer Schmelztiegel. Hier treffen sich elegant gekleidete Herrschaften nach der Vorstellung an der nahe gelegenen Volksoper mit zugewanderten Taxifahrern oder Zechern aus den umliegenden Beiseln. Bruno Kreisky, der sozialdemokratische Reformkanzler der 1970er Jahre, soll gern vorbeigekommen sein. Im Gästebuch findet sich der Eintrag: „Besser als vor Stunden beim Festbankett, schmeckt mir jetzt die Heiße beim Würstelstand.“ Ähnlich ist nur die Currywurstbude Konnopke in Berlin von einem anderen Sozialdemokraten, nämlich Gerhard Schröder, besungen worden.

Zu ihr komme „der Universitätsprofessor wie der Straßenkehrer“, fasst Vera Tondl die soziale Zusammensetzung ihrer Klientel zusammen. Deswegen ist sie sicher: Die Nachfrage wird auch in 20 Jahren noch anhalten. Allerdings: „Ein Wandel wird immer stattfinden.“

Die Essecke: Sarah Wiener komponiert hier jeden Monat aus einer Zutat drei Gerichte. Philipp Maußhardt schreibt über seinen offenen Sonntagstisch, Jörn Kabisch spricht mit Praktikern der Küche, und unsere Korrespondenten berichten, was in ihren Ländern auf der Straße gegessen wird.

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