Die wunderbare Ölvermehrung

VON HAUKE RITZ

Wenn heute die Internationale Energieagentur (IEA) ihre jährlich mit Spannung erwartete Prognose zu den weltweiten Ölvorkommen in der Bibel der Energiewirtschaftler, dem „World Energy Outlook 2005“, vorlegt, befindet sie sich in einer ungewohnt schwierigen Situation: Sie muss zu ihren eigenen Fehleinschätzungen Stellung nehmen. Jahrzehntelang galten die Studien und Vorhersagen der von 26 Mitgliedstaaten getragenen internationalen Institution als unanfechtbar. Durch ihr großes Renommee hat die IEA die Energiepolitik der letzten Jahrzehnte in einem Maße beeinflusst wie kaum ein anderer Akteur. Stets hat die Behörde prognostiziert, dass trotz weltweit steigenden Ölverbrauchs die Energiepreise niedrig bleiben würden. Und dass die Zukunft den fossilen Energieträgern gehört. Noch vor einem Jahr versuchte die IEA in ihrem Jahresbericht alle Befürchtungen zu zerstreuen, Energie könnte knapp werden. „Der Welt geht das Öl jetzt noch nicht aus“, so das Fazit. Die IEA versprach sogar, die tägliche Fördermenge ließe sich bis 2030 um 50 Prozent steigern.

Unabhängige Geologen verweisen jedoch seit mehreren Jahren darauf, dass die Produktionsspitze bald erreicht sei. Für diesen Wendepunkt in der Wirtschaftsgeschichte hat der Geologe Colin Campbell den Begriff „Peak Oil“ geprägt und mit anderen Wissenschaftlern die „Associaton for the Study of Peak Oil (Aspo)“ gegründet. Ist der Scheitelpunkt überschritten, geht die Ölförderung unaufhaltsam zurück.

Die Aspo warnte jedoch bisher vergebens. Zu groß war der Einfluss der IEA. Doch nun scheint selbst die Europäische Union umzudenken. EU-Energiekommissar Andris Piebalg hielt Ende September eine aufrüttelnde Rede vor dem EU-Parlament: „Die Kommission ist höchst besorgt über die Situation auf den Ölmärkten.“ In „tief gehenden Debatten“ hätte die Kommission einen „europäischen Aktionsplan“ entwickelt, um den europäischen Energieverbrauch kurzfristig um 20 Prozent zu drosseln. Im Ton höchster Dringlichkeit setzte sich Piebalg dafür ein, ein eigenes „europäisches Energiemarkt-Überwachungssystem“ zu gründen. Diese neue Behörde solle endlich „zuverlässige Informationen“ beschaffen. Um den Affront gegen die IEA abzumildern, gab Piebalg als offiziellen Grund an, dass schließlich nicht alle EU-Länder dort Mitglied seien.

„Die EU fühlt sich offensichtlich von der IEA nicht mehr ausreichend informiert“, sagt Jörg Schindler, der das Energieberatungsunternehmen L-B-Systemtechnik leitet. Er wirft ihr eine „riesige Desinformationskampagne“ vor. Ihre Berichte hätten immer zwei Ebenen. „Wenn es um die Fördermengen in der Vergangenheit geht, sind die Studien exakt. Aber bei den Förderprognosen bewegen sich die Autoren in einem Paralleluniversum.“ Statt geologische Tatsachen ernst zu nehmen, werde einfach an die Allmacht technischen Fortschritts geglaubt – obwohl die größten Ölfelder im Schnitt bereits zu 40 Prozent erschöpft seien. „Wie soll das alles gehen?“, meint Schindler empört und vergleicht den „World Energy Outlook“ mit der Prawda. „Man muss zwischen den Zeilen lesen, um die Wahrheit zu erkennen.“ Bezeichnend dafür ist die Tautologie, „dass die prognostizierte Ausweitung der Förderung nur möglich ist, wenn die geschätzten Reserven auch wirklich vorhanden sind.“ Als würde die IEA ihren eigenen Studien nicht glauben.

Dazu passt auch, dass die Agentur trotz ihrer optimistischen Prognosen im Mai die Studie „Schnell Öl sparen“ vorgestellt hat. Neben Fahrverboten wird darin auch das Energiesparpotenzial verkürzter Arbeitswochen untersucht. „Während man nach außen hin Sonntagsreden hält“, sagt Schindler, „rechnet man intern mit dem Schlimmsten.“ Er vermutet, „dass auf die IEA-Wissenschaftler massiver politischer Druck ausgeübt wird“. Die USA würde ihren Einfluss nutzen, um die Datengrundlage der Prognosen zu diktieren. Denn die IEA stützt sich in ihren Analysen auf die Untersuchungen der amerikanischen Bundesbehörde für geologische Studien (USGS). Deren Arbeit ist aber wiederholt kritisiert worden. Denn sie berechnet nicht nur die Größe von Ressourcenvorkommen. „Sie fügt ihren Schätzungen auch noch einen Wachstumsfaktor hinzu“, moniert etwa Rudolf Rechsteiner, ein Schweizer Sozialdemokrat und Mitglied im Aspo-Vorstand. Die USGS begründe dieses unterstellte „Reservewachstum“ damit, dass sich im Nachhinein auch die US-Ölfelder als viel größer erwiesen hätten. „Aber die wurden schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert entdeckt“, wendet er ein, „heute sind die Explorationsmethoden viel exakter.“ Dank der verbesserten Vermessungsmethoden konnten die später entdeckten Ölfelder des Nahen Ostens sofort realistischer eingeschätzt werden. „Die statistischen Verfahren der USGS“, so Rechsteiner, „sind unseriös.“

Doch es gibt noch weitere Tricks, mit denen die Statistiken geschönt werden: So kalkulieren die USGS-Geologen mit Ölvorkommen, die es höchstwahrscheinlich überhaupt nicht gibt. Beispiele hierfür werden in der 2004 erschienenen Studie „Energieversorgung am Wendepunkt“ von Werner Zittel und Jörg Schindler angeführt. Danach sind sich die US-Geologen zu 95 Prozent sicher, dass sich vor Grönland kein Öl finden lässt. Bleibt eine Restunsicherheit von 5 Prozent. Diese 5 Prozent dienen jetzt der USGS dazu, hohe Reservevorkommen zu errechnen. So geht man mit fünfprozentiger Wahrscheinlichkeit davon aus, dass dort Ölvorkommen existieren könnten, die doppelt so groß wie jene in der Nordsee sind. Aus beiden Schätzungen leitet die USGS einen Mittelwert ab. Ergebnis: Obwohl man sich zu 95 Prozent sicher ist, vor Grönland kein Öl zu finden, geht diese Region mit 75 Prozent der Nordseevorkommen in die Statistik ein.

Dennoch verwendet die IEA die Studien der USGS. So sagte die IEA voraus, dass bis zum Jahr 2025 in Mexiko 23 Milliarden Barrel Öl zu finden seien. Doch nach Veröffentlichungen der „IHS Energy“, der größten privaten Datenbank über Ölvorkommen, hatte man bis 2002 lediglich 0,8 Milliarden Barrel entdeckt. „Die Öffentlichkeit wird systematisch in die Irre geführt“, sagt Rechsteiner. „Die IEA hat immer nur die wirtschaftlichen Interessen der Atom- und Ölindustrie bedient.“ So hat die Behörde noch 2002 einen Ölpreis um die 30 Dollar bis 2030 prognostiziert, um die erneuerbaren Energien als zu teuer darzustellen. „Denn die lassen sich dezentral nutzen“, so Rechsteiner, „und daran würden die Monopole der Energiekonzerne zerbrechen.“

Mittlerweile denken aber selbst Ölfirmen um. Auf der Homepage von BP wird die Frage, „wann geht uns das Öl aus“ sogar schon als Themenschwerpunkt vorgestellt. Neben einer Erklärung der Peak-Oil-Theorie wird auch auf Aspo verwiesen – obwohl man deren Prognosen weiterhin zurückweist.

Auch die Bundesanstalt für Geologiewissenschaften und Rohstoffe (BGR) rückt inzwischen von den optimistischen IEA-Vorhersagen ab. „Wir zweifeln die IEA-Studien an“, sagt Öl-Experte Hilmar Rempel der taz. Er erwartet den „Peak“ zwischen 2005 und 2020. Dennoch übernimmt die BGR weiterhin die Daten, die die USGS zur Verfügung stellt – auch aus Mangel an Alternativen. „Die USGS-Studien beinhalten einfach das umfassendste Datenmaterial, das es auf diesem Gebiet gibt“, sagt Rempel. Der Aspo will er aber noch nicht beitreten; so pessimistisch ist die BGR denn doch nicht. Sie setzt noch immer auf die großen Erdölvorräte des Nahen Ostens, insbesondere in Saudi-Arabien.

Doch sind die dortigen Reserven umstritten. Der Investmentbanker Matthew Simmons hat bei Feldforschungen vor Ort ermittelt, dass die riesigen Ölvorkommen schon weitgehend erschöpft seien. Denn die „Giant Fields“ produzieren bereits seit 30 bis 50 Jahren. Die USA haben in dieser Zeit ihren Einfluss in Saudi-Arabien genutzt, die Ölförderung nach oben zu treiben und den Preis niedrig zu halten.

Wie Simmons in einer Studie zeigt, hat dies viele saudische Ölfelder überbeansprucht. Möglicherweise sind irreparable Schäden entstanden. Denn um den Förderdruck aufrechtzuerhalten, wurde Wasser in die Felder eingepresst. Jetzt wird oft nur noch ein Wasser-Öl-Gemisch gepumpt. Simmons schätzt, dass der Wasseranteil inzwischen 30 bis 50 Prozent erreicht hat.

Karl-Heinz Schult-Bornemann von Esso hingegen ist optimistischer. Er glaubt, dass sich die Ölproduktion weiter steigern lässt. „Vor allem durch technischen Fortschritt in der Fördertechnik kann die Produktion bis 2030 noch zunehmen.“ Dabei setzt er auf die so genannten Horizontalbohrungen. Für Simmons ist diese Fördertechnik, bei der Ölfelder seitlich angebohrt werden, jedoch eher ein Verzweiflungsakt als ein Hoffnungsschimmer. Denn solche Bohrungen sind mit großen Risiken behaftet. Sie steigern zwar anfangs die Fördermenge – aber einiges deute darauf hin, dass langfristig die Gesamtmenge des geförderten Öls geringer sein könnte. Immer wieder kommt es zu einem plötzlichen Produktionskollaps, weil zu viel Wasser nachschießt. Zurzeit setzen die Saudis diese Technik im weltweit größten Feld „Ghawar“ ein. Simmons hat zahlreiche Indizien gesammelt, dass es dort in den nächsten fünf Jahren zu einem Förderrückgang von 70 Prozent kommen könnte. Simmons rechnet damit, dass schon in diesem Winter die Ölproduktion sinkt.

Die Experten mögen weiter streiten – die Frage, ob eine Ölverknappung bereits begonnen hat, wird durch den dramatischen Preisanstieg der letzten Monate bei Ölprodukten wie Benzin, Kerosin und Heizöl längst beantwortet.