Feste Muster Der Zeitgeist lässt den gewöhnlichen Menschen nicht in Ruhe, sagt der Philosoph Matthias C. Müller. Ein Gespräch über die Tugend des Mittelmaßes: „Gewöhnlichkeit ist der größte Luxus“
Interview Doris Akrap und Sebastian Erb
taz.am wochenende: Herr Müller, Sie verteidigen das gewöhnliche Leben. Warum?
Matthias C. Müller: Ich habe mich zunächst gefragt, was eigentlich das Besondere an Stars und Prominenten ist. Ich hatte immer das Gefühl, dass die meisten gar nichts Besonderes sind, sondern eher idealtypische Verzerrungen der Durchschnittlichkeit.
An wen denken Sie da?
Jenseits konkreter Beispiele – Tom Hanks, Katy Perry – ist die Frage für mich nur ein Ansatz, um darüber nachzudenken, was eigentlich gewöhnlich und was außergewöhnlich ist. Das Wort „gewöhnlich“ hat mehrere Bedeutungen, auch wertneutrale, die schon im 12. Jahrhundert auftauchen: die gewöhnliche Zeit, zu der wir uns zum Skatspielen treffen etwa. Das Wort meinte zunächst nichts Negatives.
Wann änderte sich das?
Die Entwicklung zu einer Bedeutung des Niedrigen, Vulgären, Ordinären verlief in Etappen. In den 500 Jahren der Neuzeit hielt – nicht zuletzt mit dem Erstarken des Bürgertums und mit der Französischen Revolution – der meritokratische Gedanke Einzug. Das bedeutet, dass jeder aufgrund seiner Leistung die Möglichkeit hat, andere zu überragen.
Ist es nicht paradox, dass unter der Parole von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit das „Gewöhnliche“ zum Schimpfwort wird?
Auf den ersten Blick ja. Die Französische Revolution hat zwar viel bewirkt, jedoch ihr Ziel zunächst verfehlt. Im Grunde gab es in Europa erst 1918 für alle die Chance, sich selbstbestimmt zu verwirklichen.
Warum braucht das gewöhnliche Leben überhaupt eine Verteidigung? Ist es nicht längst überall durchgesetzt? Die „Lindenstraße“ hat „Dallas“ und „Denver“ abgelöst. In fast jeder Promi-Talkshow kommt auch ein Nichtprominenter zu Wort.
Man muss das gewöhnliche Leben verteidigen, weil der Zeitgeist den Menschen in seiner Gewöhnlichkeit nicht in Ruhe lassen will. Der Zeitgeist sagt, du musst dein Leben ändern, du musst etwas Außergewöhnliches leisten. Es ist nicht genug, dass du nur du selbst bist. Du bist ein Star, tritt endlich auf!
In Shows wie „Deutschland sucht den Superstar“, in der mittelmäßige Talente entdeckt werden wollen.
Diese abwertende Bedeutung von „mittelmäßig“ ist heute virulent. Wenn man einen Blick in die sozialen Netzwerke wirft, sich YouTube-Videos anschaut, sieht man überall Menschen, die zeigen wollen, dass sie etwas Besonderes sind.
Aber auch YouTube-Stars sind doch ziemlich gewöhnliche Menschen, die gewöhnliche Dinge tun, wie Schminktipps geben oder Lieder singen.
Ich halte YouTube nur begrenzt für eine Plattform des gewöhnlichen Menschen. Das Ziel ist eine hohe Anzahl von Aufrufen, um Werbegeld zu machen.
Was ist denn ein gewöhnlicher Mensch?
Nimmt man die Perspektive eines Ethnologen aus dem brasilianischen Urwald ein, der nach Europa reist, dann sieht man leicht, woraus das gewöhnliche Leben besteht. Daraus, wie Menschen sich die Hand geben, in der U-Bahn Platz machen, Feste feiern. Das gewöhnliche Leben ist durch gleichbleibende Muster strukturiert, die das Leben erleichtern.
Wer entscheidet denn, welches gewohnte Muster das Richtige ist?
Das Übliche und das Gewöhnliche sind nicht identisch. Am Ende einer Auseinandersetzung über das Richtige wird womöglich eine veränderte Einstellung übernommen. Erinnert sei an Aristoteles’ Begriff der „Mesotes“, der Mitte. Damit meint er die Mitte zwischen schädlichen Extremen. Die Tugend der Mäßigung etwa ist die Mitte zwischen Wollust und Stumpfsinn. Beim Trinken wäre es besser, sich zu mäßigen und nicht zwei Flaschen Wein zu trinken.
Da gibt es auch andere Meinungen.
Für manche sind vielleicht zwei Gläser mäßig und für den anderen fünf. Laut Aristoteles gibt es auch die Tugend der Tapferkeit, die die Mitte zwischen Tollkühnheit und Feigheit bildet. Oder die Tugend der Großzügigkeit, zwischen Verschwendung und Geiz. So gesehen ist die Mitte erst einmal das, was aus der Lebensklugheit entsteht. Und Menschen benötigen Mut, ihr eigenes Maß zu finden. Das ist auch wichtig, um ihrer Rolle als Bürger gerecht zu werden: autonom leben, aber auch zum Gemeinwohl beitragen.
Aber wer definiert denn, was die Mitte ist?
Jeder Mensch darf tun und lassen, was er will, sofern er andere in ihren Lebensrechten nicht einschränkt. Wenn man einen dezidiert weltlichen Standpunkt einnimmt – einen nichtmetaphysischen, nichttheologischen Standpunkt –, dann ist eines klar: Es gibt keine Autorität, die einem Menschen sagen kann, wie er zu leben hat, kein Gott und kein Zeitgeist.
Woher kommt die ursprünglich positive Bedeutung von „gewöhnlich“?
Das Grundwort ist „wohnen“. Und das bedeutet, sich auskennen, bleiben, vertraut sein. Das Positive am Gewöhnlichen ist, dass man sich darüber keine Gedanken mehr machen muss. Man kommt von draußen, wo man sich beweisen musste, früher bei der Mammutjagd, heute bei der Arbeit – und atmet auf. Der Innenraum aber hat in der gegenwärtigen westlichen Kultur einen so schweren Stand wie die Stabilität. Der Finanzkapitalismus verlangt die Veränderung oder die Innovation. Schon Marx und Engels beschrieben in ihrem Kommunistischen Manifest 1848, wie der Kapitalismus alles Stehende verdampfen lässt.
Was ist so schlimm an Innovationen? Die Suche nach dem Außergewöhnlichen hat die Menschheit doch vorangebracht.
Ich plädiere nicht dafür, dass der Mensch in der Höhle bleiben oder Verbesserungen wie medizinische Erkenntnisse ablehnen soll. Der Kapitalismus aber will Veränderungen, um Wachstum hervorzubringen, meist ohne zureichende ökologische und ästhetische Sensibilität. Eine Waschmaschine darf nicht lange halten, damit neue gekauft werden. Jede Veränderung aber, die banale wie die existenzielle, muss integrierbar sein in das eigene Innenraum-Ensemble.
Was ist denn ein Innenraum-Ensemble?
Der Philosoph, Jahrgang 1970, wurde von Peter Sloterdijk promoviert und unterrichtet an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Über das gewöhnliche Leben veröffentlichte er das Essaybuch „Alle im Wunderland“.
Menschen leben ihr ganzes Leben in Innenräumen. Bereits im Mutterbauch beziehen Menschen ihre erste Wohnung, in der sie gewissermaßen ausgehalten werden. Das Leben ist nichts anderes, als immer neue Zimmer zu organisieren – vom Mutterbauch-Zimmer bis zum Sarg-Zimmer. Auch im Alltag bewegen sich Menschen von Innenraum zu Innenraum: Man wacht im Schlafzimmer auf, bewegt sich durch die Wohnräume, um in den Gehsteig-Innenraum zu kommen, der mit dem Bordstein vom Straßen-Innenraum abgegrenzt ist, oder steigt in den Innenraum des Autos.
Aber viele haben doch das Bedürfnis, aus diesen Innenräumen auszubrechen, raus aus dem Alltag.
Selbst wenn man irgendwohin wandert, kennt man ja die Richtung. Auch ein Zelt ist ein tragbarer Innenraum, der Mensch trägt sein Zelt so wie eine Schnecke ihr Haus. Menschen müssen von ihrer anthropologischen Konstitution her wissen, wo sie sind. In dem Moment, wo sie das nicht tun, entsteht Angst. Angst ist das Entsetzen vor dem Nichts. Die Angst ist der Moment, wo es keine Orientierung, keine Gewohnheit und keinen Innenraum mehr gibt.
Wie sehr eignet sich Ihr Begriff des Gewöhnlichen, um eine stets wandelnde Gesellschaft zu beschreiben?
Der Mensch ist natürlich auch immer ein Gemeinschaftswesen. Schon im Mutterbauch gibt es die Andeutung eines ersten „Du“, die Plazenta ist eine Art Gegenüber. Erst in Verbindung mit einem Gegenüber kommt der Mensch zu sich. Dazu kommt vor und nach der Geburt die Stimme der Mutter. Deren Gesicht ist die Wand, die ihn anlächelt. Das erste bewusst eingerichtete „Du“ ist dann die eigene Wohnung. Wenn ich eine solche Umgrenzung erlebe, erlebe ich mich selbst. Aus diesem Grund sind Grenzerfahrungen beruhigend: Das ist mein Innenraum, hier bin ich Mensch. Wenn sich aber die Lebenssituation stets wandelt – die Wand also nicht ruhig steht –, dann muss der Mensch sein gewöhnliches Leben unter großem Stress permanent daran anpassen.
Und trotzdem bleibt die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit.
Das ist ja eigentlich eine unbegründete Angst. Das Entscheidende ist, dass man in die Struktur des Gewöhnlichen reinkommt und ein vertrautes Umfeld schafft. In diesem Raum muss ich mich dann um vieles nicht mehr kümmern. Deshalb kann ich mich um das kümmern, wovon ich träume. Das zeigt doch: Gewöhnlichkeit ist der größte Luxus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen