Eine Liebe aus Deutschland

Dies ist die Geschichte von Leonie und Walter Frankenstein, eine Geschichte des Heimwehs: Das jüdische Ehepaar überlebt versteckt mit seinen zwei Kindern die Nazi-Jahre. Nach dem Krieg hilft Walter bei der Organisation der Einwanderung nach Palästina, wird auf Zypern interniert und kämpft im israelischen Unabhängigkeitskrieg. Seit fünfzig Jahren leben sie im Exil in Stockholm – „denn man erlaubt es sich nicht, in Deutschland zu Hause zu sein“

VON KLAUS HILLENBRAND

Sie war zwanzig, er noch keine achtzehn. Sie hatte Nachtwache bei den Kranken unten im Kellergeschoss. Er kam von der Arbeit zurück. Da war ein Fenster zum Keller, da setzte er sich hin. Wenn keiner der Kranken sie rief, dann konnten beide sich unterhalten. „Mit Diskussionen über Religion fing’s an“, weiß Leonie Frankenstein. Walter: „Damals wussten wir noch mit der Bibel Bescheid. Wir hatten viel zu diskutieren.“

Im Auerbach’schen Waisenhaus zu Berlin, an der Schönhauser Allee 162, gab es getrennte Schlafsäle für die Kleinen bis zum Alter von zehn Jahren, für jene bis dreizehn sowie für die Großen. Die Erzieherinnen aber hatten eigene Zimmer: „Meines war ein Treffpunkt für alle Lehrlinge“, sagt Leonie und lächelt. „Bei mir im Zimmer waren meist vier, fünf Jungs. Aber dann hat sich etwas herauskristallisiert, und dann waren nur wir beide auf dem Zimmer.“

So beginnt eine Liebe in Berlin. Nichts Besonderes, eigentlich. Zwei junge Leute lernen sich kennen. Anfang 1942, es herrscht Krieg. Leonie Rosner und Walter Frankenstein sind Juden. Die Deportationen hatten begonnen. Auswandern ist verboten. Noch dürfen Leonie und Walter in dem 1896 gegründeten jüdischen Waisenhaus leben. Aber beide müssen Zwangsarbeit leisten. Walter als Maurer zehn Stunden täglich, um für die Gestapo Luftschutzkeller auszubauen; Leonie in einer Fabrik, die Fesselballons herstellte. Das Auerbach’sche Waisenhaus – ihr Refugium.

Ein Vorort von Stockholm im September, der Sommer geht zu Ende, nachts wird es schon kühler. Flache, verklinkerte Mietshäuser aus den Fünfzigern stehen zwischen sauberen Rasenflächen, auf denen Birken wachsen. Leonie und Walter Frankenstein leben seit bald fünfzig Jahren in einer Zweizimmerwohnung. Die Wände des Wohnzimmers sind gefüllt mit Zeichnungen und Bildern aus Schweden, die des Schlafzimmers über und über mit Büchern. „Wir haben es sehr gut hier“, sagt die 84-jährige Leonie. Sie ist klein von Statur, blond und immer noch von erstaunlicher Energie: „Aber wir sind wurzellos. Heimat ist das nicht.“

Das klingt sehr traurig, nach all den Jahren, weshalb der schlanke Walter, drei Jahre jünger als seine Leonie, gleich eine seiner vielen Schnurren loswerden muss: „Wenn Schweden im Fußball gewonnen hat, dann habe ich den Kollegen immer gesagt, ‚Wir haben gewonnen.‘ Doch wenn sie eine Niederlage erlitten, meinte ich, ‚Ihr habt verloren.‘ “

Leonie und Walter Frankenstein haben Glück in ihrem Leben gehabt, und sie wissen es. Versteckt in Berlin und Leipzig, sind sie den Nazis entronnen. Haben die Nachkriegsmonate in Berlin überlebt und es irgendwie nach Palästina geschafft. Walters Einheit ist im Unabhängigkeitskrieg Israels fast bis auf den letzten Mann gefallen – er aber hat überlebt. Sie haben schließlich einen neuen Anfang in Schweden gewagt – und wieder gewonnen.

Vom Auerbach’schen Waisenhaus blieb nichts übrig. „Früher stand hier mal eine Ruine“, erinnert sich ein älterer Bewohner des Vorderhauses heute. Dort, wo sich Leonie Rosner und Walter Frankenstein näher kamen, erhebt sich mittlerweile ein achtgeschossiger Neubau, vor dem ein Transparent für Eigentumswohnungen wirbt.

Im ersten Hinterhof steht noch eine rote Ziegelmauer. Und im Eingang erinnert eine Plexiglastafel an das jüdische Waisenhaus.

Walter Frankenstein kommt als Zwölfjähriger zu den Auerbachern. Sein Vater ist früh verstorben, die Mutter bewirtschaftet in Flatow bei Schneidemühl im heutigen Polen ein Warenhaus mit Landhandel. „Das war ein großes Grundstück mit Geschäft und Wohnhaus. Es kamen viele Bauern aus der Umgebung zum Wochenmarkt in Flatow.“ Walter erinnert sich, wie er als Bub 1933 am Fenster stand: „Wie das Jungvolk vorbeigezogen ist, hätte ich gerne mitgemacht. Ich hatte ja keine Ahnung.“

Bis zum Tag des Judenboykotts am 1. April 1933 läuft das Geschäft gut. „Dann wurde die Lage schlechter und schlechter. 1938 musste zwangsweise verkauft werden“, erinnert sich Walter. Sein Onkel Selmar, im Ersten Weltkrieg dekorierter Sanitätsrat, besorgt ihm den begehrten Platz bei den Auerbachern. Er sagt heute: „Wir waren dort sehr gut versorgt.“

Onkel Selmar aber, Jahrgang 1871, ein strikter Gegner zionistischer Auswanderung, der noch in seinem Testament bestimmt, dass nur erbberechtigt ist, wer zum Zeitpunkt seines Todes im Deutschen Reich weilt, wird mit seiner Frau Ottilie 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Er stirbt am 24. Oktober, seine Frau nur fünf Tage später. Zwei kleine goldfarbene Steine mit ihren Lebensdaten sind seit 2005 vor ihrer letzten Wohnung im bürgerlichen Berlin-Wilmersdorf ins Straßenpflaster eingelassen.

Leonie Rosner wächst bei ihren Großeltern in Leipzig auf, ihre Mutter arbeitet als Abteilungsleiterin in einem Warenhaus, die Ehe ist früh geschieden. 1931, im Alter von zehn Jahren, kommt sie in ein jüdisches Kinderheim. Später beginnt ihr Engagement für eine neue jüdische Heimstätte in Palästina: zionistischer Jugendbund, Beth Chaluz in Berlin, Hebräischunterricht: „Ich war angefüllt mit Plänen für eine Zukunft in Palästina.“ Und sie besucht ein Vorbereitungslager für Teenager. Einwände der Mutter? „Sie hat sich wenig eingemischt. Und als sie es tat, war es schon zu spät.“

Doch dann muss Leonie arbeiten, um zu überleben. Als Haustochter: „Da musste ich die ganze Drecksarbeit machen für ein Taschengeld.“ Sie beginnt eine Ausbildung als Kindergärtnerin. Schließlich landet sie in der Israelitischen Taubstummenanstalt in Berlin-Weißensee. Als die Nazis die Einrichtung auflösen, kommt die attraktive junge Frau mit den schwarzen Haaren zusammen mit ihren Schützlingen ins Auerbach’sche Waisenhaus.

Ihre Mutter Beate, inzwischen erneut und mit einem „Arier“ verheiratet, wird 1943 von der Gestapo einbestellt, weil in ihrem Postausweis der Zwangsname „Sara“ fehlt. „Sie hat noch gefragt, ob sie ihr nicht erlauben, schnell den Namen ‚Sara‘ dazwischenzuschreiben“, erzählt Leonie. Am 16. August 1943 geht sie ins Polizeihauptquartier. Ihr Mann und die Tochter glauben an eine rasche Rückkehr. Doch Beate Kranz, geschiedene Rosner, wird nach Auschwitz deportiert. In Leipzig erhalten sie einen Kassiber, herausgeschmuggelt von einer Zigeunerin: „Und da schreibt sie nur: Es ist schrecklich hier. Ihr würdet mich nicht wiedererkennen und ich komme nicht zurück.“ Beate Kranz stirbt im Alter von 43 Jahren am 3. Januar 1944. „Ihr Mann ist bis nach Auschwitz gefahren. Und am Tor hat man ihm gesagt: Sie ist tot.“

Im Auerbach’schen Waisenhaus beschließen Leonie und Walter zu heiraten. Liebe ist ihr erster Grund, klar. Es eilte nur plötzlich. „Heiraten wollten wir unbedingt, weil die Transporte schon gegangen sind“, so Leonie trocken. „Und man glaubte damals, wenn man verheiratet wäre, bliebe man zusammen.“

Die Hochzeit am 20. Februar 1942 muss schlicht ausfallen. „Ich kann mich überhaupt nicht besinnen, wie das zuging“, sagt Walter. „Wir wollten das verdrängen“, so Leonie: „Als Mädchen wünscht man sich eine schöne Hochzeit, ein weißes Kleid, es ist ein furchtbar wichtiger Tag. Aber es war nur formell.“ Die Feierlichkeiten beschränken sich auf eine Tasse Kaffee in einem Restaurant. Der Genuss von Kuchen ist Juden sechs Tage zuvor verboten worden. Nur wenige Verwandte können noch kommen und dem jungen Paar Glück wünschen.

Sie ziehen in ihre erste möblierte Wohnung. Leonie ist schwanger, und muss dennoch ohne Pause zur Zwangsarbeit. „Ich bin dauernd ohnmächtig geworden. Und eines Tages in der U-Bahn halfen mir zwei Nonnen und nahmen mich unter den Arm. Den Judenstern hatten sie nicht gesehen. Ich habe mich bedankt, und sie meinten, das sei doch selbstverständlich. Da sagte ich, dass ich Jüdin sein. Sie erklärten, ja, dann dürften sie mir nicht helfen.“ Leonie Frankenstein ist noch heute empört. Am 20. Januar 1943 wird Sohn Peter geboren. Weil die Nazis den Namen Peter für Juden verboten, wird er Uri genannt.

Zu diesem Zeitpunkt sind die Deportationen der Juden aus Berlin in den Osten bereits seit mehr als einem Jahr in vollem Gang. Am 29. November 1942 geht mit dem „23. Berliner Osttransport“ der erste Zug aus dem „Altreich“ nach Auschwitz. Unter den 998 Deportierten befinden sich 36 Kinder aus dem Auerbach’schen Waisenhaus. 20 von ihnen sind unter fünf Jahre alt.

Leonie und Walter Frankenstein leben Anfang 1943 legal in einem „Judenhaus“ in Berlin-Mitte. Die Nazis hatten die noch in Berlin lebenden Juden zum Umzug aus ihren alten Wohnungen in diese überfüllten Häuser gezwungen, um Raum für NS-Funktionäre und Bombengeschädigte zu erhalten. Von der Deportation ausgenommen sind ohnehin nur noch jüdische Zwangsarbeiter. Sie sollen am 27. Februar 1943 direkt von ihren Arbeitsplätzen verhaftet und ebenfalls deportiert werden.

Mehr als sechzig Jahre später sitzen Leonie und Walter Frankenstein in ihrem Wohnzimmer in Stockholm und suchen nach ihren Erinnerungen. Manches ist ihnen präsent. Bei anderen Ereignissen müssen sie angestrengt nachdenken. Beide korrigieren sich bei ihren Episoden und Erinnerungsstückchen gegenseitig. Manche Gedanken zurück sind schön. Wie Walter Leonie zu einer Berliner Weißen in einen Vergnügungspark eingeladen hat und sie vorher ihre Judensterne abgenommen haben. Andere sind fürchterlich …

Nein, die meisten sind fürchterlich. Sohn Peter ist noch nicht sechs Wochen alt, da kommt die Gestapo ins „Judenhaus“ an der Linienstraße. Walter ist zur Arbeit gegangen, Leonie mit dem Kind allein. „Und da haben sie mich abgeholt“, berichtet sie. „Ich habe noch gesagt, sie dürfen mich nicht mitnehmen wegen des kleinen Kindes. Da ist ein Mann runtergegangen und hat seinen Chef gefragt. Kam zurück und sagt, dass er mich mitnehmen muss.“ Mit dem Kinderwagen und anderen Frauen geht es auf einem Lastwagen zur Großen Hamburger Straße in Berlin-Mitte, wo das jüdische Altersheim steht – das den Nazis als Sammelpunkt für die Transporte in den Tod dient.

„Ich stand bei anderen Frauen, die hatten einen Schein, dass sie zurückgestellt waren“, berichtet Leonie. „Da habe ich gesagt, ich hätte auch so einen Schein, aber der läge in der Wohnung. Irgendwann fragte ich: ‚Darf ich jetzt nach Hause gehen?‘ Und da hieß es bloß: ‚Fragen Sie nicht so dumm.‘ “ So entgehen Leonie und Peter mit unglaublichem Glück dem Transport. Doch als Walter abends von der Arbeit im Reichssicherheitshauptamt zurückkehrt, sind seine Frau und sein Kind verschwunden, die Wohnung ist versiegelt: „Ich bin in eine Bäckerei gegangen, habe alles gekauft, was ich kriegen konnte, und in meinen Knickerbockerhosen versteckt. Und ich laufe zur Großen Hamburger, um Leonie zu suchen. Dort hieß es, sie sei seit einer halben Stunde entlassen.“ An der Wohnung treffen sie sich wieder, brechen das Siegel auf. Sie leben.

Ein paar Tage später findet Walter bei der Arbeit keinen einzigen seiner Kollegen mehr vor. „Da kommt der Polier raus und fragt: ‚Was machst du denn hier? Hat man dich nicht abgeholt?‘“ Als der sich beflissen zum Telefonieren begibt, haut Walter ab: „Ich bin nach Hause gekommen und habe gesagt, jetzt müssen wir weg.“

„Wir wollten nicht gehen wie unsere Freunde“, erinnert sich Leonie: „Wir hatten eine Freundin. Wir haben mitgeholfen, ihr Köfferchen zu packen. Wir wollten nicht. Nicht mit uns!“ Und Walter ergänzt: „Es gab kein Zurück mehr. Wir haben das gar nicht bewusst bestimmt. Es war selbstverständlich.“ Walters Mutter und sein Onkel Selmar sind inzwischen deportiert worden. Da verschwinden Leonie und Walter Frankenstein, einundzwanzig und achtzehn Jahre alt, mit Sohn Peter in den Untergrund.

Sie haben keine Papiere und kaum Geld. Ihr erstes Ziel ist Leipzig, wo Leonies Mutter lebt. Sie reisen getrennt mit dem Zug. „Da kommt die Gestapo rein: ‚Ihre Ausweise bitte‘ “, erzählt Leonie. „Eine Frau hatte keinen Ausweis dabei, nur eine Kleiderkarte. Und da hieß es: ‚Das können Sie ja an jeder Straßenecke kaufen.‘ Und der Gestapomann hat sich aufgeregt. Und mich nicht kontrolliert.“ Noch gefährlicher ist die Reise für Walter, der im wehrfähigen Alter leicht den Wehrmachtsstreifen in die Hände fallen kann: „Vor meinem Coupé stehen vier Herren: Ledermäntel, Schlapphüte, Gestapo, also Kontrolle. Zwei sind nach links gegangen, zwei nach rechts. Mich haben sie nicht kontrolliert – ein Zufall.“

Während Leonie mit dem Baby in der kleinen Wohnung von Mutter und Stiefvater Unterschlupf findet, ist für Walter dort kein Platz. Ein Bekannter des Stiefvaters versteckt ihn. „Der Herr Koch hatte eine Tischlerei. Ich habe bei ihm gearbeitet. Wir haben Kaninchenfelle gekauft, das Fett abgekratzt und daraus Seife gemacht. Ich habe Fenster geputzt für das Café Naschmarkt, Reklame für den Zirkus Busch ausgetragen.“ Bis eine Nachbarin Verdacht schöpft und fragt, was denn das für ein junger Mann sei, der neuerdings beim Herrn Koch wohnt. Walter muss verschwinden. Flieht nach Berlin, wieder mit dem Zug, wieder ohne Papiere.

Edith Berlow, eine nichtjüdische Freundin der Familie, bringt Walter in der pharmazeutischen Firma von Arthur Ketzer in Berlin Grunewald unter. Ketzer arbeitet aktiv im Widerstand und steht in Verbindung mit der „Gemeinschaft für Frieden und Aufbau“. Doch das wusste Walter damals nicht: „Wir haben über meine Situation kaum gesprochen. Er hat mich eingewiesen, und dann habe ich Pillen gedreht. Er hat gesagt: ‚Man kann ja anstelle von Olivenöl Rizinusöl anwenden. Und statt Zucker Rübensaft nehmen. Und etwas abzweigen.‘ “

Im August 1943 wird Leonies Mutter von Leipzig nach Auschwitz deportiert. Auch sie selbst flieht mit dem Sohn nach Berlin zurück. Schlüpft wie ihr Mann bei Ketzer in der Königsallee unter. Sie leben, Leonie, Walter, Peter.

Im Februar 1944 zerstört eine Luftmine das Haus in Grunewald. Familie Frankenstein überlebt im selbst gebauten kleinen Bunker im Garten. „Da war alles weggeblasen, aber der Bunker hat gehalten“, berichtet Walter. Doch ihr Versteck ist zerstört. Ketzer kann ihnen nicht mehr helfen, aber er hat eine Idee. Leonie erzählt: „‚Geh zur Bombengeschädigtenstelle‘, hat er gesagt, ‚und sage, du bist zu Besuch in Berlin gewesen und die Papiere sind zerstört worden.‘ “

So wird aus der gesuchten Jüdin Leonie Frankenstein die „arische“ Deutsche Marta Gerhard, die von den fürsorglichen Behörden weg vom Berliner Bombenhagel ins friedliche Dorf Briesenhorst bei Landswerg an der Warthe verschickt wird. „Ich bekam einen neuen Ausweis und ein neues Geburtsdatum.“ Sie lebt bei einer Bäuerin, deren Mann an der Ostfront kämpft. „Ab und zu ist die Polizei gekommen, und ich habe immer gedacht: ‚Mein Gott, jetzt holen sie dich.‘ Aber die wollten nur wissen, ob der polnische Hilfsarbeiter auch ordentlich arbeitet.“

Inzwischen war Leonie erneut schwanger. „Ich wollte absolut das Kind!“, sagt sie rückblickend: „Es war reiner Wahnsinn. Später in Israel haben sie mir gesagt: ‚Ein Kind, das verstehen wir, aber noch eins!‘ Aber ich wollte sechs Kinder haben.“ War das nicht gefährlich? „Die Gefahr habe ich verdrängt.“

Während Walter in Berlin bleibt, in ausgebombten Ruinen schläft und illegale Arbeiten annimmt, kommt Leonie in Landsberg zur Entbindung ins Krankenhaus. Sohn Peter bleibt bei der Bäuerin – und Leonie bekommt Angst. Denn der Junge war nach der Geburt beschnitten worden. Würde die freundliche Bauersfrau etwas merken und es melden?

Michael wird am 26. September 1944 geboren, und Leonie verbringt wegen einer Entzündung fast drei Wochen in der Klinik: „Ich bin auf eigenes Risiko raus. Mein kleiner Peter war ganz dick geworden und hat ‚Mama‘ gerufen. Ich habe mein eigenes Kind nicht mehr erkannt!“ Die Bäuerin hat nichts gemeldet. Leonie erzählt etwas von einer Verkrümmung am Penis und dass er deshalb beschnitten worden sei. „Ich schätze, die haben kein Wort geglaubt“, meint sie. „Ich nehme an, die Frau hat gedacht, sie tue besser Gutes für die Juden, wenn ihr Mann nach Hause kommt.“ Stalingrad ist schon im Januar 1943 gefallen. Im Oktober steht die Rote Armee vor Warschau, im Westen haben die Alliierten deutschen Boden erreicht.

Doch für Leonie Frankenstein alias Marta Gerhard entstehen neue Gefahren: Es gibt Probleme mit ihrem Geburtsdatum. Marta Gerhard ist der Name einer ehemaligen Schulfreundin Leonies. „Ich konnte mich an das Datum nicht erinnern. Ich habe angegeben, was ich geglaubt habe. Dann kam ein Brief, sie würden keine Marta Gerhard kennen, die dann und dann geboren wurde. Sie fragten, wo in Leipzig meine Mutter denn entbunden hätte. Ich schrieb zurück, das wüsste ich nicht. Dann haben sie wieder geschrieben, sie müssten das aber ganz genau wissen.“ Ihre falsche Identität droht aufzufliegen.

Leonie entschließt sich wieder zur Flucht zurück nach Berlin.

Dort hält sich ihr Mann Walter immer noch illegal verborgen. Beider einzige Verbindung sind postlagernde Briefe. Leonie steht Todesängste aus, als ihr Walter wochenlang nicht antwortet. Er hatte Gestapo-Beamte im Postamt zu sehen geglaubt und sich deshalb nicht mehr in das Gebäude getraut.

Morgens wärmt er sich wie viele illegale Juden auf langen Fahrten mit der S-Bahn von den Nächten in Häusertrümmern auf: „Eines Morgens bin ich eingeschlummert, was sonst nie passiert ist. Da kam ein Feldwebel zu mir, so ein Kettenhund, zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. ‚Ausweis!‘ Ich habe gebrochen Deutsch gesprochen und gesagt, ich käme von der Nachtschicht bei Siemens und hätte die Papiere in den Arbeitskleidern vergessen.“

Walter Frankenstein erzählt in seinem Sessel in Stockholm von dem Vorfall, als sei es gestern gewesen. „Der Kettenhund sagt: ‚Steigen wir in Friedrichstraße aus, da gehen wir zum nächsten Polizeirevier, und da wird sich das erledigen.‘ Aber unten an der Rolltreppe hielt ich ihn an und sagte zu ihm: ‚Jetzt hören Sie einmal zu: Ich bin Jude. Ich lebe illegal in Berlin. Wenn Sie mich zur Polizei mitnehmen, bin ich morgen in Auschwitz.‘ “ Der Feldwebel lässt sich Walters Geburtsschein zeigen, sein einziges Dokument. „Ich suggerierte ihm, dass das ein jüdischer Name sei. Da überlegte er ein wenig, und sagte: ‚Verschwinde! Ich suche keine Juden, ich suche Deserteure!‘ “

Die Erinnerungen an Deutschland vor 62 Jahren sind in Stockholm, in diesem Herbst, abwechselnd beklemmend und erheiternd. Walter Frankenstein hat den Schalk im Nacken, sprudelt vor Geschichten, die zu befreiendem Lachen zwingen: „Ich habe in der Illegalität als Filmvorführer in einem Tageskino gearbeitet. Eines Tages hörte ich Gelächter im Zuschauerraum. Und ich gucke durch die Kontrollluke. Da lief gerade die ‚Wochenschau‘ mit Frontberichten. Und die Deutschen liefen rück- statt vorwärts. Ich hatte vergessen zurückzuspulen.“ Walter fürchtet, man werde ihn für einen Saboteur halten, und verschwindet ohne seinen letzten Lohn.

Viele Abende verbringt Walter Frankenstein auf den billigsten Plätzen in Theater- und Konzertsälen, weil es dort warm ist: „Ich dachte, das seien sichere Orte.“ Doch in Wahrheit suchen genau dort die Greifer im Auftrag der Gestapo nach untergetauchten Juden. Dazu zählten auch Günther Abrahamsohn und Stella Kübler, selbst Juden, die von den Nazis zu dieser Tätigkeit erpresst wurden. „Die Stella und der Günther waren die erfolgreichsten Greifer in Berlin“, sagt Walter Frankenstein heute. „Abrahamsohn war Erzieher im Auerbach’–schen Waisenhaus gewesen, den kannte ich gut. Einmal fuhr ich mit der Straßenbahn und stand wie immer so nahe wie möglich am Ausgang. Da stieg Abrahamsohn hinten ein. Ich sah ihn und bin an der nächsten Haltestelle ausgestiegen.“

Über Arthur Katz, einen anderen illegalen Juden, lernt Walter Frau Döring kennen. Sie lässt den jungen Mann in ihrer bombenbeschädigten Wohnung in Wilmersdorf wohnen, unterstützt ihn mit Lebensmitteln: „Frau Dörings Mann war Offizier, ich glaube, in Polen. Der hat dauernd Lebensmittelpakete geschickt. Von denen habe ich auch etwas genießen dürfen.“

Als Leonie mit den beiden Kindern im Oktober 1944 aus Briesenhorst in Berlin eintrifft, müssen sie das Quartier wechseln. Erneut hilft ihnen Arthur mit einem Tipp. Sie kommen in einer Kellerwohnung bei der „Bordellmama“ Mary unter. „Mary hatte einen schwarzen Pudel. Der lag in einem kleinen Himmelbett. Als wir kamen, ist der Pudel rausgeflogen und der Micha rein ins Himmelbett“, erzählt Walter Frankenstein lachend.

Die Fronten rücken allmählich näher auf Berlin zu. Inzwischen fliegen die Amerikaner auch bei Tag ihre Luftangriffe. Leonie mit ihrer falschen Identität kommt dann im Bunker am Alexanderplatz unter. Für Walter gibt es keinen Bunker. „Ich hatte nur Angst“, erinnert sich Leonie. „Ausgerechnet wir sollten totgeschmissen werden, habe ich gedacht.“ Andererseits: „Ich habe die ganze Zeit an Wunder geglaubt und war immer optimistisch.“

Doch schon im Januar 1945 wird die neue Unterkunft von Brandbomben getroffen. Walter erzählt: „Da das unsere einzige Bleibe war, habe ich versucht zu löschen. Leonie stand mit den Kindern auf der Straße. An meiner Seite war ein SS-Sturmbannführer. Wir haben zusammen gekämpft, es brannte aber alles ab. Und dann standen wir auf der Straße, ich hatte eine kleine Rauchvergiftung, und wir wussten nicht wohin. Da kam der Sturmbannführer: ‚Wie heißen Sie?‘ ‚Kranz.‘ – ‚Herr Kranz, morgen melden Sie sich in meinem Büro, und ich werde Ihnen eine Wohnung besorgen. Und weil Sie so tapfer den Brand bekämpft haben, werde ich Sie für das Kriegsverdienstkreuz vorschlagen.‘ “

Natürlich ist Walter Frankenstein alias Kranz nicht hingegangen. Als Retterin erweist sich eine von Marys Prostituierten, der Leonie in der Not ihre wahre Identität beichtet. Leonie: „Und da zog sie einen Schlüssel aus ihrer Tasche und sagte: ‚Dort könnt ihr wohnen. Ich habe meine Schlüssel verloren. Ihr habt sie irgendwo gefunden. Ich weiß von nichts.‘ Und da haben wir gewohnt, bis der Artilleriebeschuss der Sowjets auf Berlin eingesetzt hat.“

April 1945, die Schlacht um Berlin ist im Gange, und die allerletzten Tage in der Illegalität verbringt die Familie im Bunker der U-Bahn am Kottbusser Tor in Kreuzberg, zusammen mit deutschen Frauen und Kindern. Walter versteckt sich im oberen Bett unter einem Strohsack: „Bevor die Sowjets kamen, kam erst einmal die SS. Die wollten den Bunker unter Wasser setzen. Sie haben gesagt, für deutsche Frauen und Kinder sei es nicht angebracht, das Kriegsende zu überleben.“ Doch die Frauen bringen die SS von ihrem Vorhaben ab.

„Wir können wirklich nur positiv von den Russen sprechen“, sagt Leonie heute. Ihre Augen leuchten. Sie und ihr Mann geben sich am Kottbusser Tor sofort als Juden zu erkennen und werden zur Kompanie gebracht: „Der Offizier hat mir die Hände geküsst und mich umarmt. Mein Mann bekam Wodka, und nicht zu wenig. Der hatte vier Tage nichts gegessen. Und später haben die Russen gefragt, wo denn mein Mann sei. Da habe ich auf einen Besoffenen gezeigt. Und sie haben furchtbar gelacht.“ Und heute in Stockholm füllt wieder ein Lachen den Raum – eines, das nach Glück klingt und in dem das Davongekommensein nachhallt. Als aber später Russen Leonie wie viele Berlinerinnen vergewaltigen wollen, erinnert sich Leonie Frankenstein, hat sie gesagt: „Ich bin Jüdin. Mich nicht.“ Und die Soldaten lassen von ihr ab.

1933 lebten in Berlin mehr als einhundertsechzigtausend Juden. Neunzigtausend gelang rechtzeitig die Auswanderung. Fünfundfünfzigtausend Menschen wurden ermordet, siebentausend nahmen sich selbst das Leben. Knapp fünftausend überlebten, weil sie mit einem „arischen“ Partner verheiratet waren, nur fast zweitausend überlebten die Konzentrationslager. Eintausendfünfhundert konnten sich, in einem Versteck lebend, retten.

Leonie, Walter, Peter und Michael Frankenstein haben überlebt. Aber was soll jetzt aus ihnen werden?

Nah dem S-Bahn-Ring liegt die Emser Straße in Neukölln. Heutzutage zählt diese Gegend nicht zu den besseren Wohngegenden der Stadt. Nur wenige Bomben sind hier im Krieg gefallen, einfache, graue und braune Altbauten stehen entlang der kopfsteingepflasterten Straße. Das Doppelhaus mit den Nummern fünf und sechs ist eine Ausnahme: Nicht nur besitzt das fünfgeschossige Gebäude aus den Zwanzigerjahren eine architektonisch anspruchsvolle, leicht gekrümmte Fassade mit ansprechenden Balkons, sogar ein gepflegter Vorgarten mit Blumen ist angelegt. Gegenüber erhebt sich eine preußische Trutzburg: die städtische Oberrealschule.

Leonie und Walter Frankenstein nehmen in den ersten Tagen nach dem Krieg Kontakt mit einer der gerade gegründeten kommunistischen Zellen auf. Die Leute besorgen ihnen die geräumige Vierzimmerwohnung in der Emser Straße 6. Der bisherige Mieter, ein Nazi, muss die Koffer packen. Doch wohl fühlen sich die Frankensteins deshalb nicht. Leonie: „Alle Leute erzählten: ‚Oh, wir haben nichts gewusst. Wir kennen auch einen Juden, der war so nett.‘ Es wurde einem übel davon.“

Sie haben die Deutschen gehasst. „Ich hätte sie alle umbringen können“, sagt Leonie heute: „Die Russen hatten gesagt, sie wollten aus ganz Deutschland einen Kartoffelacker machen. Wir haben nur gedacht, wenn sie es nur machen würden. Wir wollten nichts wie raus. Wir haben mit diesen Leuten nicht zusammenleben wollen.“

Bis heute vermeiden Leonie und Walter jeden Kontakt mit älteren Deutschen, wenn sie ihre frühere Heimat besuchen. Es könnten alte Nazis sein. „In Deutschland reden wir Schwedisch miteinander“, sagt Walter. „Wenn wir in einer Konditorei sitzen, und ältere Menschen kommen und fragen, ob an unserem Tisch noch Platz sei, sagen wir nicht Nein. Aber es ist uns unangenehm. Natürlich können wir niemanden, der nach 1930 geboren worden ist, für irgendetwas beschuldigen, was die Deutschen angerichtet haben.“ Leonie mischt sich ein: „Das wäre ja Wahnsinn, wenn wir die Schuld auf die Jüngeren übertrügen, die noch gar nicht geboren waren.“ Sie haben jüngere Deutsche kennen gelernt: „Mit positiven Eindrücken“, sagt sie, „und das ist schön.“

1945 ist das Ziel der Familie Frankenstein vollkommen klar: Palästina. Das Gelobte Land. Britische Soldaten der Jüdischen Brigade, so ihre Erinnerung, wollen ihnen helfen. Problematisch nur, dass auch nach dem Krieg die britische Mandatsverwaltung Palästinas bei ihrer strengen Quotierung für jüdische Einwanderer bleibt. Nur wenige Holocaust-Überlebende dürfen ins Land. Die Briten wollen die Araber nicht provozieren.

Aber dann, Ende 1945, geht es für Leonie Frankenstein plötzlich ganz schnell: „Sie haben gesagt, ich solle die Kinder allein nach Palästina schicken. Micha war noch nicht mal ein Jahr alt. Ich konnte das nicht.“ Schließlich erlaubt man ihr mitzufahren. „Es ging mit dem Zug nach Paris“, berichtet Leonie. „Von dort hat man uns nach Marseille in ein großes Kinderheim oberhalb der Stadt gebracht.“ Doch das Schiff kommt nicht, sie müssen Wochen in Südfrankreich warten. „Dann haben die Kinder die Masern bekommen. Da konnten wir erst recht nicht fahren.“

Erst Anfang Februar kann Leonie mit den Kindern ein Schiff nach Haifa via Alexandria besteigen. Sie reisen legal mit Einwanderungszertifikat. „Als wir in unsere Kajüte kommen, sind da zwei junge Männer. Die sagen, sie wollten illegal nach Palästina einwandern und wir sollten den Mund halten.“ Natürlich hat Leonie sie nicht verraten.

Als Leonie Frankenstein ihr Ziel Palästina erreicht, schreibt man das Jahr 1946. In sechs Wochen, hatte es geheißen, sei auch ihr Mann Walter dort. Doch daraus wird nichts. „Zwei Jahre hat es gedauert“, erinnert sich Leonie; ihr ist das Warten noch jetzt anzuhören.

In Deutschland wachsen unterdessen die Schwierigkeiten mit den „Displaced Persons“, kurz DPs genannt. Diese Entwurzelten, häufig Juden, die die Nazilager überlebt oder als Partisanen in der Sowjetunion an der Seite der Roten Armee gekämpft haben, strömen ausgerechnet in das Land der Täter. Oft hat nur ein Einziger der Familie überlebt. Die Dörfer verbrannt, die Verwandten ermordet: Was sollen sie in ihrer Heimat noch anfangen? Nach den Pogromen in Kielce, wo im Juli 1946 42 Juden von Polen ermordet wurden, gibt es einen neuen Flüchtlingsstrom nach Westen. Das Ziel ist Amerika, England, der Westen. Und Palästina.

Im besetzten Deutschland errichten die Amerikaner im bayerischen Landsberg am Lech ein großes Lager für die jüdischen DPs. Zehntausende werden von hier in eine neue Heimat geschleust. Jüdische Hilfsorganisationen aus den USA engagieren sich für die Entwurzelten im Lager. Aber auch Abgesandte der Jewish Agency in Jerusalem und der Haganah, des Vorläufers der israelischen Armee, reisen nach Landsberg, um die illegale Einwanderung nach Palästina zu organisieren. Es ist die Geburtsstunde des Geheimdienstes Mossad, dessen erste Aufgabe im Requirieren von Schiffen für den Transport besteht. Die kleinen, oft miserabel ausgestatteten und überfüllten Boote laufen meist aus kleinen Häfen in Frankreich und Italien aus.

Heute versprechen die umgebauten Saarburgkasernen am Rande von Landsberg „Wohnen mit Stil“ im „Saarburgpark“. Ab und zu, berichtet Christian Weber vom Fremdenverkehrsbüro, kämen noch ehemalige DPs in die Stadt. Doch die allermeisten historisch Interessierten ziehe es zum Gefängnis, wo Adolf Hitler 1924 in Festungshaft „Mein Kampf“ verfasst hat. Eine Besichtigung ohne kriminelle Aktivitäten ist freilich unmöglich, denn das Backsteingebäude dient auch heute noch als Justizvollzugsanstalt.

Walter Frankenstein erreicht Ende 1945 Landsberg. Er wird gleich weiter nach Greifenberg am Ammersee geschickt. „Das war so eine Art Kibbuz in einer früheren BDM-Gauführerinnenschule“, erinnert er sich. „Da hat man mich hingeschickt, um den Jugendlichen ein bisschen Sport und Verteidigungstechnik beizubringen.“ Die jungen Leute sollen illegal nach Palästina kommen. Zionistische Gruppen im Untergrund arbeiten daran, dass möglichst viele der überlebenden Juden Palästina als neue Heimat ansteuern. Dort bereitet man sich auf Auseinandersetzungen mit Briten und Arabern um die Unabhängigkeit vor. Doch in Greifenberg haben sie zwar einen Stall mit drei Kühen, eine Tischlerei und eine Lederwerkstatt, doch nur eine einzige Waffe: „Es war eine Parabellumpistole, die hatte ich unter Verwahrung. Mit ihr übten wir im Wald schießen.“

Die jungen Leute kommen aus Russland, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn. Sie spielen gemeinsam Theater, lernen Hebräisch und treiben Sport. Versorgt werden sie von den gerade gegründeten Vereinten Nationen. „An der landwirtschaftlichen Ausbildung war nicht so viel dran“, meint Walter noch heute, „eigentlich war es eine paramilitärische Ausbildung.“

Die illegale Reise beginnt im Mai 1946, als Leonie sich bereits in Palästina aufhält. „Wir fuhren auf amerikanischen Militärlastwagen, von einem Jeep geführt“, so Frankenstein: „In dem saßen offiziell Amerikaner. Aber in Wahrheit …“

Die Fahrt geht nach Frankreich: „In Belfort wurden wir in einer großen Zeremonie vom Bürgermeister begrüßt. Hier kämen die künftigen Bürger Frankreichs, hieß es. Es war alles arrangiert.“

Nach ein paar Tagen erreichen sie nachts Marseille, wo auch Leonie einige Monate zuvor das Schiff nach Palästina bestiegen hat. Doch sie konnte legal reisen. Jetzt muss Walter Frankenstein die geheime Fahrt mit organisieren. Er wird in den Hafen von Marseille geschickt, um Pritschen in einen alten griechischen Zweimaster einzubauen.

Nein, einen Ausweis der Haganah oder des Mossad hat Walter nicht: „Ich war da einfach drin. Die haben gesagt: ‚Walter, du fährst da hin.‘ “ Leute von der palästinensisch-jüdischen Eliteeinheit Palmach führen ihn in die Arbeit ein.

Sie bestechen die französische Hafenpolizei mit Zigaretten und beginnen mit Umbau und Ladung des Schiffs. Doch als ein Palmachnik Sprengstoff und Munition an Bord verstecken will, wird er von einem griechischen Seemann verpfiffen. „Die Franzosen haben die Augen zugedrückt, solange es um illegale Einwanderung ging“, erzählt Walter, „bei Waffen wurde es aber brenzlig.“ Er versteckt das Material erfolgreich in Fässern mit Milchpulver. Doch das Schiff wird von den Franzosen an die Kette gelegt.

Walter Frankenstein hat genug. Er will zu seiner Frau und den Kindern: „Da haben sie mir die Verantwortung für die Lebensmittel und das Wasser auf der ‚Latrun‘ gegeben.“ Die „Latrun“ heißt eigentlich „San Dimitrio“ und ist ein uralter schwedischer Küstendampfer für Kohlen und 75 Passagiere, der zwei Tage später, am 19. Oktober 1946, von dem kleinen Hafen La Ciotat ablegt. An Bord sind 1.248 Menschen einschließlich der spanischen Besatzung und des Kapitäns und zwei Mann von der Palmach.

Die Reise verläuft denkbar schlecht. Schon bei der Ausfahrt aus La Ciotat rammen sie einen Wellenbrecher. Das Loch oberhalb der Wasserlinie wird mit Zeltplanen dicht gemacht. Im Sturm in der Straße von Korsika bekommt der Dampfer immer mehr Schlagseite: „Der Schwerpunkt lag mit den vielen Menschen viel zu hoch. Da hat man dreißig, vierzig Mann abkommandiert, und jedes Mal, wenn sich das Schiff auf die Steuerbordseite gelegt hat, liefen die rüber auf die Backbordseite. So hat man das Schiff balanciert.“

Die spanische Besatzung will nicht mehr mitmachen, wird jedoch mit Waffengewalt gezwungen, die Fahrt fortzusetzen. Aber kurz nachdem sie Sizilien passiert haben, wird die „Latrun“ von den Briten entdeckt. „Ungefähr vor Kreta kamen die ersten Anfragen“, erinnert sich Walter: „Per Lautsprecher. Aufs Radio haben wir ja nicht geantwortet. Ob wir Hilfe brauchten? Nein danke. Wo wir hinwollten? In den Libanon. Was wir an Bord hätten? Verschiedene Waren.“

„Saumäßig“ seien die Verhältnisse an Bord gewesen. „Jeder hatte eine Pritsche, 1,60 Meter tief, sechzig Zentimeter breit und vierzig Zentimeter hoch. Man durfte nur nach Erlaubnis raus, zum Besuch der Toilette oder um Essen zu fassen.“ Zu essen gab es argentinisches Büchsenfleisch und Schiffszwieback: „Steinhart waren die! Das waren Ringe, da hat man eine Schnur durchgezogen und hat sie zum Aufweichen über Bord gehängt“, berichtet Walter. Das Wasser war leicht salzhaltig, die Passagiere litten an Durchfall. Doch: „Die Leute waren begeistert. Jetzt kommen wir ins Heilige Land!“

Auf der Höhe von Zypern, kurz vor dem Ziel, wird die israelische Flagge gehisst. Jetzt wissen die britischen Begleiter, die das Anlanden jüdischer Flüchtlingsschiffe in Palästina verhindern sollen, endgültig Bescheid. Aber noch bewegt man sich in internationalen Gewässern, noch sind sie unantastbar.

Vor Palästina versuchen die Briten, das Schiff zu entern. Die Besatzung leistet Widerstand. Walter Frankenstein: „Dann kam Tränengas, sie kamen an Bord, und es gab Schlägereien. Es gab Verletzte auf beiden Seiten. Aber gegen diese Übermacht waren wir machtlos.“ Sie hatten gehofft, durchbrechen und die „Latrun“ an der Küste auf Sand setzen zu können. Stattdessen werden sie in den Hafen von Haifa geleitet.

Haifa liegt einmalig. Hoch steigt das Karmelgebirge, gleich hinter dem Hafen, in den Himmel. Die lang gestreckte Gartenanlage des Zentrums der Bahai-Religion zieht sich herunter bis in das deutsche Viertel, wo früher deutsche Pietisten ihren Traum vom Heiligen Land verwirklichen wollten. Heute hat Haifa rund 250.000 Einwohner, darunter etwa 25.000 Araber, und ist Israels wichtigste Hafenstadt.

In Haifa erleben Walter Frankenstein und die anderen jüdischen Immigranten die nächste mächtige Enttäuschung. Sie werden nicht einmal an Land gelassen. Stattdessen geht es auf ein britisches Transportschiff, das sie nach Famagusta auf Zypern bringt. In der britischen Kronkolonie werden die illegalen Flüchtlinge seit August 1946 hinter Stacheldraht in Lagern interniert. Die „Latrun“ ist das sechste Schiff, dessen menschliche Fracht in der baumlosen Ebene von Famagusta landet. 33 weitere Schiffe folgen bis 1948, insgesamt 55.000 Juden werden auf Zypern bis zur Unabhängigkeit Israels interniert.

In Famagusta geht Walter Frankenstein von Bord. Auch seine Gruppe aus Greifenberg ist dabei – und eine junge Frau aus Russland: „Sie war Offizier bei den Partisanen gewesen“, erinnert sich Walter 59 Jahre später: „Der britische Gouverneur von Zypern war nach Famagusta gekommen. Er stand auf dem Kai, und wir stiegen vom Landungsboot. Dieses Mädchen stellte sich vor den Gouverneur, schimpfte ihn aus – und dann spuckte sie ihm mitten ins Gesicht. Er stand da, ohne sich zu rühren.“

Die Passagiere der „Latrun“ kommen ins Camp Kaolas 63. Das abgesperrte Lager mit Militärzelten und Wellblechbaracken liegt direkt am Meer, in einiger Entfernung von der türkischen Altstadt Famagustas. Heute sind hier neue Häuser entstanden, die Stadt ist längst über ihre alten Mauern hinweggesprungen. Kaum ein Tourist verirrt sich hierher, die meisten Besucher wollen lieber die Zeugnisse gotischer Architektur sehen. Die großen Ferienhaussiedlungen beginnen erst einige Kilometer weiter östlich. Vom Camp ist nichts mehr übrig.

Walter Frankenstein verdingt sich als Koch: „Ich habe einen Herd und einen Backofen gebaut. Von den Engländern bekam ich das Material dazu: Ziegel, Kalk und Zement. Und dann habe ich unsere Jungs und Mädchen mit Essen versorgt.“ Noch heute in Stockholm, klagt seine Frau Leonie, dürfe sie nur selten an den Herd: „Walter kocht leidenschaftlich gern.“

Widerstandslos fügen sich die Bewohner des Camps nicht: „Wir hatten einen sehr guten Kontakt mit der türkischen Bevölkerung auf Zypern. Man hat Leute aus dem Lager geschmuggelt. Es wurden Verbindungen hergestellt mit Palmach und Haganah, die außerhalb des Lagers für Israels Sache agierten.“

Leonie wartet unterdessen immer noch auf ihren Mann. Sie lebt zusammen mit den beiden Kindern in Hadera, einer Kleinstadt südlich von Haifa: „Ich bin zum Sozialamt gegangen, da war eine sehr nette Dame. Die hat uns eine Einzimmerwohnung verschafft. Und dann habe ich drei Stühlchen, drei Tellerchen, drei Gäbelchen, drei Messerchen, ein Kinderbett und zwei Betten bekommen. Ich hatte einen roten Manchesterrock und eine weiße Bluse.“ Sie lernt Hebräisch und beginnt zu arbeiten. Sie bricht sich ein Bein und ist überwältigt von der Hilfe aus einem nahe gelegenen Kibbuz. „Ich war ein freier Mensch. Ich brauchte keine Angst mehr vor Nachbarn zu haben. Oder vor jemandem, der hinter mir herrufen würde: ‚Jude!‘ “ Von ihrem Mann hört sie erstmals wieder, als der in Haifa von Bord der „Latrun“ nach Zypern gebracht wird.

Im Mai oder Juni 1947 ist für Walter Frankenstein die Lagerzeit auf Zypern beendet. Die Briten bringen ihn nach Palästina, aber frei ist er, mehr als zwei Jahre nach dem Ende der Kriegstage in Berlin, immer noch nicht. Er kommt in ein Internierungslager und arbeitet auch dort in der Küche. Hier besucht ihn seine Frau zum ersten Mal wieder. Leonie: „Aber dann lässt man ihn nicht raus. Und ich habe gefragt, warum. Ja, hieß es da, da müsse ich im Hauptquartier in Jerusalem nachfragen. Ich bin nach Jerusalem getrampt. Da ließ man die Akten kommen, da stand in großer Schrift ‚secret‘ drauf. Dann sagt der: ‚Man wirft Ihrem Mann vor, dass er Kommunist ist.‘ “

„Ich war kein Kommunist“, meint Walter. „Die wollten mir was anhängen wegen meiner Tätigkeit in Frankreich.“ Es dauert bis zum September 1947, bis Walter Frankenstein endlich freikommt. Er zieht mit seiner Familie in die winzige Wohnung in Hadera und beginnt, als Maurer zu arbeiten.

Hier könnte die Geschichte einer friedlichen Familie beginnen, die nach Verfolgung, dem Untergrund in Berlin und der schwierigen Überfahrt in die neue Heimat endlich in bescheidenen Verhältnissen zur Ruhe kommt. Doch inzwischen spitzt sich die Lage in Palästina zu. Nur zwei Monate nach Beginn des glücklichen Zusammenseins in Hadera beschließt die UN-Vollversammlung, am 29. November 1947, die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat.

Die arabische Seite will diese Entscheidung nicht akzeptieren. Sie beginnt einen Guerillakrieg. Die Juden wehren sich, sie wollen keine Opfer mehr sein. Ultranationalistische Gruppen von der Irgun und der Sterngruppe richten Massaker an. Arabische Gruppen massakrieren jüdische Zivilisten. Großbritannien, immer noch Mandatsmacht, hält sich aus dem Konflikt weitgehend heraus, will keine Soldaten mehr opfern.

Walter Frankenstein wird zum Vorläufer der israelischen Armee, der Haganah, gerufen: „Man hatte keine Arbeitsruhe. Man wurde geholt, Wache schieben. Es sei etwas an den Grenzen.“ Sein Arbeitgeber und Kompagnon verspielt den Lohn, es ist kaum noch Geld im Haus; die Lage für die Frankensteins wird schwierig.

Am 14. Mai 1948 ruft Israel seine Unabhängigkeit aus. Die arabischen Nachbarstaaten reagieren mit Krieg. Eine Stunde nach der Unabhängigkeitserklärung wird Walter einberufen. Seine Personalnummer lautet 27009: „Man hat bei 25.000 angefangen zu zählen, damit es nach mehr aussieht“, erzählt er. Leonie bekommt Angst: „Wir hatten Freunde aus Österreich. Der Mann hat gesagt: ‚Um Gottes willen, die Araber werden kommen, um uns alle ins Meer zu treiben.‘ “

Walter ist wieder nicht frei. Er kommt in eine Elitebrigade. Vor Tel Aviv stoppt die Armee die einmarschierenden Ägypter. Dann werden die Soldaten eingesetzt, um den eingeschlossenen jüdischen Teil Jerusalems zu versorgen. Von den 75 Mann seiner Einheit sterben bis auf fünf alle. Walter hat wieder Glück, zur Zeit der schlimmsten Kämpfe liegt er im Militärhospital. Israel gewinnt den Krieg.

Zerschossene Lastwagen, die Jerusalem damals nicht erreicht haben, liegen heute, militärischen Ikonen gleich, an den Hängen der judäischen Berge längs der Autobahn von Tel Aviv nach Jerusalem. Regelmäßig werden sie frisch rostbraun gestrichen.

Walter Frankenstein ist keiner, der, voll Stolz und mit alten Soldatengeschichten prahlend, seine Militärzeit glorifiziert. In der Stockholmer Wohnung kramt er israelische Orden hervor, aber er will keine Einzelheiten vom Krieg berichten.

Sein letzter Rang fällt ihm, der doch sonst so ein großartiges Gedächtnis hat, erst nach einer Stunde wieder ein. „Im Oktober oder im November 1949 bin ich freigekommen.“ Er sagt ‚freigekommen‘, nicht ‚entlassen worden‘. Danach kommen noch sechseinhalb Jahre Reservedienst: Ein Zivilistenleben unter Vorbehalt wird möglich.

Die Familie Frankenstein kommt wieder in Hadera zusammen. Die Kinder wachsen heran. Walter arbeitet als Maurer und Fliesenleger – seinen Wunschberuf Architekt hatten die Nazis verhindert. Er baut mehrere Kibuzzim mit auf, legt Rohre für Bewässerungsanlagen in der glühenden Hitze im Jordangraben.

Mit manchem in der neuen Heimat kommen die Frankensteins nicht so gut zurecht: „Einen Tag in der Woche ist Sabbat, und da darf man nicht einmal mit dem Bus zu seinen Bekannten und Verwandten fahren. Wo gibt es denn so was?“, fragt Leonie noch heute verärgert. Vom Holocaust und den Opfern will man in den Aufbaujahren des jungen Israel nur wenig wissen. Leonie: „Meine Nachbarin, Frau Frank, hat mich aufgezogen: ‚Muss ja schlimm gewesen sein, was Sie durchgemacht haben. Aber wir sind bis zu den Knien durch den Sand gegangen!‘ “

Die Arbeit von Walter im Jordantal entpuppt sich als großer Fehler: „Das hat mir den letzten Rest gegeben. Dort zu arbeiten und herumzuspielen mit 160 Kilo schweren Betonröhren. Das war ein Grund, warum ich Israel verlassen wollte.“ Am Ende, erinnert sich seine Frau, war der große, damals 32-jährige Mann auf sechzig Kilo abgemagert.

Leonie mag Hadera nicht verlassen, doch da ist der Freund in Schweden, der auch aus Deutschland stammt und wie die Frankensteins die braune Zeit in Deutschland hat überleben können. „Israel zu verlassen tat sehr weh“, gibt sie heute zu: „Wieder in ein fremdes Land.“ Deutschland stand nicht zur Debatte: „Nach Deutschland wollte man nicht. Das kam überhaupt nicht infrage.“

Von Haifa nach Neapel geht ihre Reise, dann weiter gen Norden, es ist das Jahr 1956. Leonie und die Kinder bleiben kurz bei ihrem Stiefvater in Dortmund, bis Walter in Stockholm den Papierkram erledigt hat. Am 15. November 1956 ziehen sie in die Zweizimmerwohnung am Rand von Stockholm ein, wo sie heute noch leben.

Walter Frankenstein, dessen Rücken von der schweren Arbeit kaputt ist, wagt im Alter von 45 Jahren einen neuen Berufsanfang, studiert und wird erfolgreicher Ingenieur bei einem großen Konzern. Als die Kinder älter sind, beginnt auch Leonie, wieder in einem Büro zu arbeiten. Mit sechzig hören beide auf. Heute sind die Söhne selbst schon über dieses Alter hinweg, die Frankensteins haben drei Enkel und zwei Urenkel. Diese sind Schweden geworden. Aber was Leonie und Walter Frankenstein eigentlich sind, Schweden, Israelis, Deutsche, wissen sie nicht. Die israelische Staatsangehörigkeit haben sie abgegeben, die deutsche nie angenommen. Sind sie Schweden?

„Wir haben keine Heimat“, meint Leonie. Sie waren in den letzten Jahren häufig in Deutschland. „Aber man erlaubt sich nicht, dort zu Hause zu sein. Man möchte es gern. Es ist unsere Sprache. Es ist unsere Kultur. Aber es geht nicht.“

Manchmal, in Deutschland auf Besuch, mischt sich unaufgefordert Schwedisch ins Deutsche hinein. Leonie: „Ich gehe in eine Drogerie und frage, ob sie Ansichtswasser haben. ‚Nein, das haben wir nicht.‘ Nächste Drogerie: ‚Haben Sie Ansichtswasser?‘ – ‚Nein.‘ Ich denke, wie komisch, das habe ich doch schon als junges Mädchen gekauft. Dabei heißt es natürlich Gesichtswasser.“

Für sie sei es wichtig, dass sie eine schöne Familie seien. Und Leonie blickt Walter an. Schon den ganzen Tag über mit dem Besucher haben sie sich angeblinzelt wie zwei Frischverliebte, gerade so, als ob es zwischen ihnen eben gefunkt hätte, wie damals im Auerbach’schen Waisenhaus, vor 63 Jahren.

Walter blickt Leonie an: „Meine erste und einzige große Liebe.“

KLAUS HILLENBRAND, Jahrgang 1957, ist Chef vom Dienst der taz. Im taz.mag schrieb er zuletzt im Sommer dieses Jahres über eine Eisenbahnfahrt von Istanbul nach Aleppo