: Die Rebellen von Oz
Verschiedene Generationen arbeiten in einem Fabrikkomplex nahe Roms zusammen. Sie verstehen sich als Gegenentwurf zu einem als unsozial empfundenen Europa
Hohe Laubbäume werfen Schatten in dem großen Hof, Grillen zirpen um die Wette, ein Hund tollt zwischen den zu Tischen umfunktionierten großen Kabelrollen herum. Gleich hinter den Bäumen steht das Tor einer Fabrikhalle offen, gibt den Blick auf einen alten Eisenbahnwaggon, einen Schlafwagen, frei. Bis 2010 arbeitete das Werk nahe an Roms zweitgrößtem Bahnhof Tiburtina für die italienischen Staatsbahnen, kümmerte sich um die Instandhaltung und, wann immer nötig, die Runderneuerung der Schlafwagen.
„2010 war plötzlich Schluss“, erzählt Peppe, ein fülliger Mittfünfziger. „Da war die Krise auch bei uns angekommen, alle wurden entlassen. Und der schon ausgeschlachtete Schlafwagen blieb einfach in der Halle stehen“. Die etwa 100 Arbeiter besetzten ihre Fabrik, ohne Erfolg.
Die Schließung konnten sie nicht verhindern. Doch plötzlich bekamen die alten Gewerkschaftskämpfer unerwartete Unterstützung. Francesca zum Beispiel, pechschwarze Haare, dunkle Augen. „Als wir vor zwei Jahren das Haus im Viertel Tor Pignattara besetzt haben, um dort Wohnraum für Studenten zu schaffen, sind wir sofort rausgeflogen.“
Sie steht im Hof und hält kurz inne. „Binnen 17 Stunden war die Polizei da – Rekord. Unser Projekt schien gescheitert, ehe es überhaupt begonnen hatte. Aber jetzt ist es lebendiger denn je!“
Eine von Francescas MitstreiterInnen ist Miriam, die an der Uni in Studentenkollektiven aktiv ist. Ihre blonden Haare hat sie hochgesteckt, auf den ersten Blick wirkt sie schmal, ja fast zerbrechlich, doch sie ist voll Energie.
„2013 haben wir hier erneut besetzt“, sagt sie. „Wir“ umfasst Leute vom Centro Sociale „Strike“, dem besetzten autonomen Zentrum gleich nebenan; weiterhin eine Gruppe von StudentInnen, die für Wohnraum kämpften. Und dann gibt es außerdem noch einen Zusammenschluss prekär Beschäftigter und jene, die als „Selbstständige“ kaum überleben können , und schließlich die ehemaligen Fabrikarbeiter.
„ ‘Verrückte Idee‘ haben wir das Projekt anfangs getauft, mittlerweile nennen wir uns Officine Zero, die Nullwerkstätten, und unsere Abkürzung „Oz“ erinnert nicht umsonst an den Zauberer“, sagt Miriam. Ein bisschen Magie ist ja auch dabei in dieser Begegnung von Menschen aus völlig unterschiedlichen Milieus und unterschiedlichen Generationen. „Die Krise hat uns zusammengeführt“, bilanziert Miriam, setzt dann aber gleich nach: „ ‚Krise‘ ist mittlerweile gar nicht mehr das passende Wort, wenn sie schon seit Jahren dauert, heißt das doch, dass sie der neue Normalzustand ist.“
Gegen diesen Normalzustand arbeitet Oz an, mit seinen Werkstätten, der Polsterei, der Schreinerei, der Elektrowerkstatt oder der Schmiede, mit den Büros für die Co-Worker – Fotografinnen, Architekten, Grafiker oder Webdesignerinnen –, mit Fortbildungskursen, mit der Beratungsstelle der Basisgewerkschaft für Prekäre und notgedrungen Selbstständige, mit dem Studentenwohnheim „Mushrooms“, das Platz in einem zweistöckigen, grünen Verwaltungsgebäude direkt am Tor der großen Fabrikanlage gefunden hat, mit der im Oz beheimateten Redaktion des Webmagazins Dinamo Press.
„Hier wurschtelt nicht jeder für sich“, bemerkt Dominga, Fotografin, die vor 15 Jahren aus Neapel nach Rom zum Studieren kam und jetzt bei den CoWorkern aktiv ist. „Wir versuchen, alle Projekte gemeinsam zu entwickeln. Als wir Co-Worker zum Beispiel einen Fortbildungskurs über die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Quellen aufgelegt hatten, waren die Studenten sofort bei der Vorbereitung dabei.“
Und auch für das Webmagazin Dinamo Press schreiben die Leute aus dem Mushroom-Wohnheim regelmäßig.
Oz, das ist die gelebte Utopie vom Arbeiten senza padroni, „ohne Chefs“, wie ein Plakat verkündet. Doch zugleich ist es Utopie mit Bodenhaftung. „Wir wollen es uns nicht in der alternativen Nische bequem machen“, meint Miriam, „wir arbeiten für den Markt“.
Peppe zum Beispiel habe in der Polsterei auch die Kissen für eine Jacht gefertigt. „Damit haben wir kein Problem“, sagt Dominga.
Die Polsterei liegt in einem der flachen Gebäude hinter der Waggonhalle. Auf den großen Tischen stehen halb fertige Elemente, die sich einmal zu einer großen Couch zusammenfügen sollen, die Sitzflächen, die Rückenpolster, ein enormer Puff – nicht gerade ein Möbelstück für die Alternativ-WG.
Sie verstehen ihre Arbeit als Gegenentwurf. „Wir sind mittendrin im Diskurs über ein soziales Europa, über die Schaffung eines anderen Europa, politisch ist für uns nicht Rom, nicht Italien, sondern Europa der Horizont“, meint Miriam. „Allerdings befinden wir uns in einem Europa, in dem sie den Norden gegen den Süden in Stellung bringen wollen, in dem die Mittelmeerländer Gefahr laufen, in eine subalterne Rolle gegenüber dem Norden des Kontinents gedrängt zu werden“.
Antieuropäischen Versuchungen können sie und ihre MitstreiterInnen dennoch nicht erliegen. „Europa wurde doch aus einem Traum heraus geboren, einem Traum, der nicht ökonomischer Natur war, sondern die politische Kooperation an die erste Stelle setzte.“ Und sie selbst, findet sie, sei „unmittelbar europäisch“. Ihre Generation sei schließlich, dank Erasmus zum Beispiel, dank besserer Fremdsprachenkenntnisse auch, von Anfang an „über die Grenzen gegangen“.
Dumm nur, dass das nicht nur im Guten, sondern auch im Schlechten gilt: „Mittlerweile hat es doch meistens gar keinen Sinn mehr, in Rom vor dem Parlament zu protestieren, man muss nach Brüssel, das ist der entscheidende Ansprechpartner. Deshalb waren wir im März in Frankfurt bei Bloccupy, deshalb fahren wir auch wieder zu den Bloccupy-Protesten demnächst in Posen.“ Und das Bloccupy-Netzwerk wird den Leuten von Oz zugleich zum Vehikel, ihre Erfahrungen, ihre Produkte in Europa zu verbreiten.
Letztes Jahr organisierten sie eine Karawane von Istanbul über Thessaloniki nach Spanien und dann nach Deutschland, um sich quer über den Kontinent zu vernetzen. Für Europa also, das denkt auch Francesca. „Wir, unsere Generation ist europäisch geboren, auch dank einer ganzen Reihe von Gelegenheiten, die uns heute offenstehen, aber wir stehen heute einem Europa großer Ungleichheit gegenüber, das radikal den Interessen einiger Regierungen unterworfen ist; das bringt uns in einen starken inneren Widerspruch“.
Illusionen über ihre Zukunft hat sie nicht, auf eine reguläre Vollzeitstelle nach dem Studium, gar auf einen unbefristeten Vertrag mag sie nicht hoffen. Umso wichtiger ist es ihr, als Studentin im Oz zu wohnen. Das bringe auch praktische Perspektiven, zum Beispiel mit den Co-Workern, durchaus aber auch mit den Handwerkern. „Schließlich werden wir heute doch alle dazu gedrängt, uns als Unternehmer neu zu erfinden“. Oder eben auszuwandern, „nach Europa“.
Die deutsche Vorherrschaft
Paolo, auch er Student der Politikwissenschaft, lehnt sich zurück. Er muss nicht lange nachdenken, wenn er nach der EU gefragt wird. „Als Leute, die nach dem Studium mit einem Leben als prekär Beschäftigte rechnen müssen, überlegen wir uns natürlich oft genug, von hier wegzugehen, um uns anderswo ein neues Leben zu erfinden. Ich zum Beispiel hätte hier nicht allzu viele Dinge, die ich zurücklassen würde.“
Die Finanzkrise geht in das achte Jahr. Die ökonomische Lage in vielen Ländern Südeuropas ist weiter schlecht, die Arbeitslosenquote hoch.
Betroffen sind oft junge Menschen. Eine ganze Generation wächst mancherorts in Europa heran, gut ausgebildet, aber ohne die Perspektiven der Generation ihrer Eltern. Viele verlassen deshalb ihr Land.
In diesen Wochen blicken wir mit einer Reportageserie auf die junge Generation eines Kontinents, der zusammenwachsen soll, aber auseinanderdriftet.
Auch Paolo bezeichnet sich als „absolut europäisch“, doch ihm stößt auf, dass die Union sich immer mehr in ein Haus der geschlossenen Türen verwandelt, nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für Unionsbürger. „Europa verändert sich, die Grenzen beginnen sich zu schließen“, bilanziert er: „In den letzten Jahren sind diverse Länder Nordeuropas dazu übergegangen, Leute wieder wegzujagen, weil sie Sozialleistungen in Anspruch nahmen. Und das traf vorwiegend Menschen aus Südeuropa, die aus nordeuropäischen Ländern, aus Belgien oder Großbritannien ausgewiesen wurden.“
Nein, an diesem „Europa unter deutscher Vorherrschaft“ mag Paolo absolut keinen Gefallen finden, an einem Europa, das mittlerweile auch im Leben derer Spuren hinterlasse, die es bloß durchqueren wollen, um sich Arbeit zu suchen.
Süd gegen Nord, Peripherie gegen Zentrum: das ist für Francesca, Paolo und Miriam die Konfliktlinie, die Europa auseinanderzureißen droht. Illusionen macht sich hier keiner. Trocken heißt es im Webzine Dinamo Press, die Botschaft an Italiens Jugendliche sei bloß noch: „Haut doch ab!“, denn „im Süden Europas sollen die Leute gefälligst auch das Tanzen einstellen“.
Miriams Augen leuchten dann aber doch, als sie auf das griechische Referendum zu sprechen kommt. Fünf Leute von Oz, erzählt sie, waren damals auf dem Syntagma-Platz in Athen, um den Sieg des Ochi, des Nein, zu feiern, und alle anderen hatten sich zu einer Party in Rom zusammengefunden, um auf die Referendumsresultate anzustoßen.
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