Schreibkunst und Lebensmüll

Abfall Das gelebte Leben mit all seinen Hoch-, Tief- und Flachpunkten: „Wie der Müll geordnet wird“ von Iris Hanika breitet freilich erst mal ein schönes Durcheinander aus

Die Verklärung des Mülls und der Stadt in einem Berliner Hinterhof Foto: imago

von Eva Behrendt

Auf einem der Höhepunkte des Romans liegen zwei seiner Protagonisten, der Unternehmersohn Adrian Antonius Marschner und seine Sekretärin Renate, auf dem Fußboden. Angezogen, aber aufeinander. Es dauert ein paar Seiten, bis die beiden sich sortiert haben und Renate sich trotz ihrer fünf Kilo Übergewicht entspannen kann. „Der Kühlschrank schüttelte sich und hörte auf zu brummen. Renate war innen ganz leicht und außen ganz schwer, fast schlief sie ein. Dann sprang eine heiße Weite zwischen ihren Beinen auf, als sie spürte, wie sein Geschlecht sich ausgedehnt hatte, aber sie folgerte nichts daraus. Sie war so voller Schlaf, sie hätte schnurren mögen. Und aus ihm war alle Unbestimmtheit gewichten. Er drückte ihre Hände, wie ihr Gewicht ihn zusammendrückte, und lächelte.“

In seiner anfänglichen Unbeholfenheit ist es ein komischer, dann grandios zarter Glücksmoment, den Iris Hanika ihren sympathischen Neurotikern hier auf den Leib schneidert: allergrößte Nähe, ja, aber lieber keine Verschmelzung. Kurz darauf verwickeln sich die Dinge wieder, und Adrian verbringt mehrere Jahre in der „Irrenanstalt“ – zu seiner vollen Zufriedenheit übrigens. Aber der Reihe nach. Was im Fall von Hanikas Buch „Wie der Müll geordnet wird“ gar nicht so einfach ist.

Zur Sicherheit hat die gebürtige Würzburgerin, die in den 80er Jahren zum Literaturstudium und zum Schreiben nach Berlin kam, ihrem „Produkt von hoher Qualität und zeitloser Eleganz“ eine Reihe Ratschläge zum Gebrauch vorangestellt. „Seien Sie unbesorgt, wenn Sie etwas nicht sofort verstehen“, rät sie, „dabei handelt es sich um eine normale Begleit­erscheinung der Rezeption anspruchsvoller Texte.“ Man wird noch einige Male an diesen Satz zurückdenken. Etwa, wenn einzeln verwendete Doppelnamen (Adrian Antonius taucht erst als Antonius, später als Adrian auf), aber auch die Doppelung von Namen (ob die Tagebuchschreiberin Renate Gramschatz nur Namensbase oder identisch mit der Sekretärin Renate Kermer ist?) für handfeste Unübersichtlichkeit sorgen.

Es ist nämlich nicht nur der sensible Sonderling Antonius, der im ersten Teil des Romans („Durcheinander (Gegenwart)“) auf der Suche nach möglichst sinnfreien Tätigkeiten allmorgendlich den Müll in seinem Berliner Hinterhof nach sortiert. Auch uns Lesern fällt die streckenweise fast kriminalistische Aufgabe zu, Hanikas falsch geordnet scheinende, heterogene Textmaterialien zu einem verständlichen Bild zusammenzusetzen. So führt Adrians Hadern mit der Sinnlosigkeit seiner Gegenwart anfangs zu russophilen Formspielereien und fußnotenreichen Exkursen mit dem Sinnverweigerer Daniil Charms und zum (Un)Sinnstifter Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski, dem Vorbild für Lenins Revolutionsschrift „Was tun?“. Während Antonius noch über das Verhältnis von Geld und Müll sinniert, fischt er „das orangefarbene Heft“ einer gewissen Renate Gramschatz aus dem Container, die darin von ihrem Lebensüberdruss nach dem Tod ihres Mannes berichtet. Achtung: Der Text befindet sich nicht nur im Müll, er verarbeitet auch den „Lebensmüll“, also das, was das gelebte Leben mit all seinen Hoch-, Tief- und Flachpunkten hinterlässt.

Ein in seiner anfänglichen Unbeholfenheit komischer und dann grandios zarter Glücksmoment

Im zweiten Teil („Anmerkung (Vergangenheit)“) erweitert die Autorin Personal und Stoff, biegt aber gen Westen ab. Die junge Literaturwissenschaftlerin Dorothea kommt kurz nach der Wende von einem längeren USA-Aufenthalt nach Berlin, um über den Barockdramatiker Johann Christian Hallmann zu promovieren. Für ihren Doktorvater Amos Mann, einen amerikanischen Juden, sucht sie einen verschollenen Hallmann-Text, den einst seine ermordeten Eltern besaßen und der sich nun in der kostbaren Bibliothek des Möbelhausunternehmers Kurt Marschner, Adrian Antonius’ Vater, befinden könnte. Auch wenn Iris Hanika die Erzählung in viele Perspektiven auffächert, liest sich der lange Mittelteil äußerst spannend – halb Campusnovel, halb Familienkrimi, und mittendrin die krude Büroliebe zwischen Adrian und Renate. Vergleichsweise knapp folgt Teil drei („Ende (Zukunft)“) mit zwei Briefen, in denen Adrian letzte Lücken schließt.

Ist der Müll jetzt geordnet? Mit „Lebensmüll“ und seinem (umweltschonenden) Recyc­ling kennt Iris Hanika sich aus: In ihrem letzten Ich-Roman „Tanzen auf Beton“ verarbeitete sie freimütig ihre Therapieerfahrungen, von denen sie bereits in „Die Wette auf das Unbewusste“ gemeinsam mit Ko-Autorin Edith Seiffert berichtet hatte. In ihrem neuen Buch bewegt Hanika sich auf deutlich fiktionalem Terrain, wie auch in den früheren Romanen „Treffen sich zwei“ und „Das Eigentliche“, deren Themen – die eigentlich unmögliche Annäherung zweier Neurotiker und der deutsche Vergangenheitsbewältigungskomplex – sich im Müll-Buch ebenfalls wiederfinden.

Auch wenn sich eine schlüssige Handlung aus „Wie der Müll geordnet wird“ herausschälen lässt, der „Plot“ also aufgeht, ist das Rezeptionspuzzle nur ein Aspekt unter weiteren. Dass aber der „Müll“ bespielt werden will, umgeordnet, neu betrachtet, anders erzählt, dass er Freiräume eröffnet, etwas noch einmal hervorzuholen, um sich darin zu versenken, dass er sich am Ende gar nicht entsorgen lässt und wir mit ihm leben müssen – das scheint mir der wesentliche Ertrag von Hanikas Lebensmüllphilosophie zu sein, der sich zugleich als Poetologie, als Schlüssel zu ihrer Schreibkunst erweist.

Iris Hanika: „Wie der Müll geordnet wird“. Droschl Verlag, Graz 2015, 304 Seiten, 20 Euro