: Vorposten mit Zuckerwerk
Nachkriegsgeschichte Zweite Folge beim „Blick von außen“: Diesmal guckt sich unsere dänische Gastautorin im Alliiertenmuseum um
von Henriette Harris
Es ist ein erstickend heißer Sonntag in Dahlem. Ich stehe mit anderen Freaks vor der Treppe, die in eine Hastings TG 503 führt. Nichtexperten erkläre ich gern: Es ist ein Flugzeug vom Typ Hastings T5, das aus der Zeit der Berliner Luftbrücke stammt. Die Maschine, die ab November 1948 bei den Versorgungsflügen des blockierten Westberlins zum Einsatz kam, befindet sich auf dem Gelände des Alliiertenmuseums und war mit 6,8 Tonnen die größte Transportmaschine der Royal Air Force.
Meine navyblau-weiße Boardingkarte hat einen Euro gekostet, und als wir ins Flugzeug steigen, treffen unsere Körper auf eine etwas andere „Berliner Mauer“. Diese Hitzemauer ist aber keine Absicht, sondern der Tatsache geschuldet, dass die Klimaanlage 1946, dem Baujahr der Maschine, vielleicht noch nicht erfunden worden war. Oder ist sie an diesem heißen Sonntag einfach nicht angeschaltet?
Wir sind nur sechs Passagiere und ein Kind. Ich denke, dass das Paar, das seine dreijährige Tochter mitgebracht hat, noch verrückter ist als ich. Warum steht das Kind in einer alten Metallsauna, statt im Schlachtensee zu plantschen? Während ein langhaariger Mann, ganz sicher ein 68er, ins Cockpit fotografiert und die Fallschirmaufbewahrungsplätze (Wie sonst übersetzt man „Parachute Stowage“?) untersucht, erzählt das Paar seiner Tochter von den Rosinen, die in Paketen runtergeworfen wurden, „weil die Leute nichts zu essen hatten“. Das Kind überlegt, ob seine Großeltern die Berliner Blockade durch Rosinennaschen überlebt haben. Ich überlege, ob jedes Kind von seinen Eltern eine eigene So-war-es-damals-mit dem-Essen-Geschichte hat.
Meine Mutter ist zum Beispiel 1933 geboren. Sie war ein Kind unter der deutschen Besatzung von Dänemark 1940–45. Ihr Trauma sind aber nicht die deutschen Bombenflieger, die sie morgens am 9. April 1940 über Kopenhagen sah. Sie hat ein traumatisches Verhältnis zu Brei. Weil alles knapp war, hat man zu dieser Zeit zwei-, dreimal in der Woche Brei gegessen. In meiner Kindheit in den 1970er Jahren habe ich mit Erschrecken zugehört, wenn meine Mutter von Wasserbrei, Samtbrei, Biersuppe, und wie das alles hieß, erzählt hat, die furchtbaren Gerichte, mit denen die dänischen Besatzungskinder gequält wurden. Zucker gab es nur wenig. Alles war halt rationiert.
Luftbrücke in Zucker
Zucker gab es aber ein paar Jahrzehnte nach dem Krieg reichlich in Westberlin. Wir fliegen auch nicht mit der Hastings TG 503, sondern gehen in die Ausstellung des Alliiertenmuseums, wo von den alliierten Kräften in Westberlin von 1945 bis zur Wiedervereinigung 1990 erzählt wird. In der Schau ist auch eine Zuckerplastik zu sehen, aus 17 Kilogramm amerikanischem Würfelzucker. Georg M. Bittner, von 1977 bis 1990 Küchenmeister der amerikanischen Stadtkommandanten von Berlin, hat sie 1985 entworfen. Das Werk zeigt in Maßstab 1:25 das Berliner Luftbrückendenkmal, das im Original vor dem ehemaligen Flughafen Tempelhof steht. Hundert Arbeitsstunden hat Bittner hineingesteckt, die Plastik wurde als Tafelschmuck verwendet.
Outpost Berlin
Auch das erste Gebäude des Alliiertenmuseums wäre einer Zuckerplastik würdig. Es wurde 1952/53 als Kino und Theater für die US Army Berlin Brigade und Special Services errichtet. Das Kino wurde in einem Namenswettbewerb im Berlin Observer, der Wochenzeitung der amerikanischen Community in Berlin, „Outpost“ genannt, weil auch Berlin in verschiedenen Publikationen als Vorposten, „Outpost Berlin“, tituliert wurde. Die Architektur ist einladend. Die Rundungen des Outpost-Gebäudes lassen an eine Zeit vor dem Nationalsozialismus erinnern, in der die steif gestreckten Arme noch nicht die sinnliche praktische Bauhaus-Ästhetik der Weimarer und Dessauer Zeit mit herzloser Monumentalarchitektur ersetzt hatten.
Das Alliiertenmuseum an der Clayallee 135 befindet sich in Dahlem, und damit im ehemaligen amerikanischen Sektor. Das 1998 eröffnete Museum dokumentiert die Rolle der Westalliierten in Deutschland und Westberlin bis 1994. Es ist täglich außer montags geöffnet von 10 bis 18 Uhr, der Eintritt ist frei.
Mit dem Alliiertenmuseum lebt letztlich noch die Zweiteilung Berlins fort. Sein Pendant hat es im Deutsch-Russischen Museum in Karlshorst. In dem nach einer Umgestaltung 1995 neu eröffneten Museum liegt die Perspektive auf dem Deutsch-Sowjetischen Krieg 1941–1945 und den deutsch-sowjetischen beziehungsweise deutsch-russischen Beziehungen. Das Museum in der Zwieseler Straße 4 befindet sich in einem ehemaligen Offizierskasino, in dem am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht unterzeichnet wurde, womit der Zweite Weltkrieg wenigstens in Europa endete.
In der Ausstellung sind wir sofort in medias res. Im ersten Raum hängt die Beflaggung der Siegermächte. Die Nähte sind schief und unbeholfen, die Fahnen sind wohl mit zitternden Händen gemacht worden.
Am 2. Mai 1945 endete die militärische Einnahme Berlins durch die sowjetischen Streitkräfte. Bis zur Ankunft der Westmächte zwei Monate später blieb die Sowjetunion in der Stadt die alleinige Besatzungsmacht. Die US-amerikanische, die britische, die französische und die sowjetische Fahne sind im Juni 1945 auf sowjetische Anordnung von der Berliner Bevölkerung hergestellt worden.
Grenze der Willkür
Später gab es keine gemeinsamen Nähprojekte mehr. Ein alter Film über die Luftbrücke wird gezeigt und herrlich kompromisslose Sätze werden gesagt, wie etwa über die Grenze am Potsdamer Platz, „hinter der kommunistische Willkür nichts mehr zu suchen hat“.
In diesem ersten Raum hängen auch internationale Zeitungen aus den Tagen vor und nach der deutschen Kapitulation. Ich weiß nicht, wie man sich als Deutscher fühlt, aber als ich die Titelseite des Daily Telegraph vom 9. Mai 1945 sehe, spüre ich doch einen Kloß im Hals. Die britische königliche Familie steht auf dem Balkon von Buckingham Palace. Prinzessin Elizabeth ist entzückend in ihrer Uniform. Die Royals zeigten sich dem Volk acht Mal in zehn Stunden, ein Mal war auch Winston Churchill dabei. Er hat dem Volk gesagt: „God bless you all. This is your victory. Victory of the cause of freedom in every land. In all our long history we have never seen a greater day than this.“
Die Dänen haben nicht immer bei dem Anblick Churchills Tränen in den Augen bekommen.
Neutralitätsfragen
Die Mutter meiner Mutter wurde 1908 in Kopenhagen geboren. Sie wurde Elly Marie genannt. Ihre drei Jahre ältere Schwester hieß Kitty Carla. Mit dem robusteren zweiten Vornamen waren die Mädels mit den ländlicheren Wurzeln der Familie verbunden, aber die Rufnamen Elly und Kitty beweisen, dass man im neuen Jahrhundert angekommen war. Sie zeigen, dass man rechtzeitig vor dem Ersten Weltkrieg nicht südlich nach Deutschland, sondern westlich nach Großbritannien schaute.
Während des Ersten Weltkriegs ist Dänemark neutral geblieben. Einige Geschäftsleute, die sogenannten „Gulasch-Barone“, profitierten sogar sehr vom Krieg. In den 1930er Jahren, als Hitler immer mehr tonangebend in Europa wurde, hatten die Dänen Schwierigkeiten zu entscheiden, auf welchem Bein sie stehen sollten. Und neunzehn Tage nach der deutschen Besatzung von Dänemark hat man in einem Leitartikel der dänischen liberalen Zeitung Politiken alle Schuld der zusammengebrochenen Neutralitätspolitik auf die Schultern von Winston Churchill gelegt. Abschieds-Salut des Artikels war: „Churchill ist ein gefährlicher Mann“.
Einige Monate später, im Juli 1940, hat der damalige dänische Außenminister Erik Scavenius (seine Zusammenarbeitspolitik mit der deutschen Besatzungsmacht, die im Sommer 1943 beendet wurde, ist eine Geschichte für sich) sogar gesagt: „Bei den großen deutschen Siegen, die die Welt mit Erstaunen und Wundern getroffen haben, wurde eine neue Zeit in Europa errungen, die eine neue Anordnung von Politik und Wirtschaft unter Deutschlands Führerschaft bringen wird.“
Ich habe im Alliiertenmuseum viel gelernt: Von einer Stadtkarte, dass Friedrichshain unter Hitler in Horst-Wessel-Stadt umbenannt wurde, weil das SA-Mitglied dort getötet wurde. Von der ersten Ausgabe des Tagesspiegel vom 27. September 1945, dass die Amerikaner damals tatsächlich überlegten, jedes NSDAP-Parteimitglied unter Anklage zu stellen. Von einem Büchlein für die alliierten Soldaten, dass der englische Satz: „Take me there“ auf Deutsch „BRING-en zee mish dawrt-HIN“ ausgesprochen wird. Ich habe noch viel mehr gelernt, aber dafür ist kein Platz mehr. Bringen Sie sich selber dorthin. Der Eintritt ist frei. Aber nur sonntags, von April bis November, kann man das Flugzeug besichtigen.
Die Autorin lebt als Journalistin in Berlin und schreibt für dänische Medien. Sie hat ein Buch über Berlin (auf Dänisch) geschrieben, aber die Stadt ist für sie noch längst nicht auserzählt. In ihrer Serie „Blick von außen“ schaut sie sich in loser Folge in Berlin um
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