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Debüt Unerbittlich, urkomisch: der Roman „Momente der Klarheit“ von Jackie ThomaeLiebesmühen mit Witz und Timing

von Moritz Müller-Schwefe

Momente der Klarheit überkommen Frank Engelhardt meistens auf dem Klo. Dann sitzt er da, starrt, grübelt und weiß zuletzt immer, was zu tun ist. „Er übernimmt Rechnungen, schmeißt alle aus seiner Wohnung, überzeugt Freunde von seinen Ideen oder küsst Frauen.“ Manchmal springt er auch betrunken von Feuertreppen. Großer Auftritt, großer Abgang. Großes Kino. Engelhardt ist Regisseur. Er lebt in Berlin, wird bald vierzig, dreht ab und zu einen „Tatort“ – und wird sich von Susanne trennen. Er ist das, was man früher einen Lebemann genannt hätte. Er trinkt, er schlingt, er schreit, er schwitzt. Und dass es mit Su­sanne aus ist, weiß er, als er mal wieder auf dem Klodeckel sitzt.

„Momente der Klarheit“ ist der erste Roman Jackie Thomaes. In Erscheinung trat die 1972 in Halle geborene Journalistin zuvor mit zwei erfolgreichen Titeln in Ratgebernähe, die sie gemeinsam mit der Autorin Heike Blümner verfasste. „Let’s face it“ heißt einer der beiden Titel, und diese Überschrift hätte genauso gut zu Thomaes Roman gepasst. Denn dass Klarheit manchmal wehtut und wehtun muss, erfährt nicht nur Frank Engelhardt am eigenen Leib. Nach seinem Feuertreppensturz liegt er im Krankenhaus. Nach der Trennung von Susanne reglos auf seinem Sofa. Immerhin – später wird er eine gut zwanzig Jahre jüngere Frau heiraten und mit ihr ein Kind zeugen.

„Sie setzte die Therapie fort. Mülltrennung ist kein freundliches Wort, traf es aber ganz gut“

„Tja, so ist das Leben“, heißt es an einer anderen Stelle des Ro­mans motivisch. Denn den meisten Protagonisten Thomaes geht es wie Engelhardt. Da ist Labelboss Ralf Bender, der sich von seiner langjährigen Freundin Doro trennt, um mit Serafina ein neues Leben zu beginnen. Da ist Iris, die sich ihre grauen Haare nicht mehr färben will und Clemens sitzen lässt, der für sie plötzlich nur noch „Mittelmaß“ ist. Da ist Lydia, die sich in Viktor verliebt, aber mit Reza zusammen ist, und Schubi, der nicht weiß, ob und wie er sich nach seinem Lottogewinn von Sandra trennen soll. Ob zwanzig-, vierzig- oder siebzigjährig, Hobbyhindu, Millionär oder Apothekerin: Sie alle eint dieser eine Moment, in dem ihnen aufgeht, was zu tun ist, und den Engelhardts Produzentin Maren in ihrer Filmsprache nur Pay-off nennt, einen Moment, „in dem der Zuschauer etwas erfährt, das im besten Fall einen Erkenntnisschock in ihm auslöst“.

Die Wirkung des Moments ist so fatal wie befreiend. Dass sie auch vor dem Leser nicht Halt macht, ist das Verdienst dieser unterhaltsamen und pointierten Inszenierung. Die verhindert im Übrigen auch, dass die Liebesmühen der hier Auftretenden – meist Berliner Schickeria – in den Kitsch abgleiten. Zuletzt steht immer die trockene Erkenntnis, der ironische Bruch.

Zum Glück, denn das hier ist eben oft auch: Berlin-Mitte, gefühlte High Society und Cuba Libre. Nichts zu sehen vom Prekariat, von Spätis und Schult­heiss­kneipen, von Lankwitz und Steglitz, vom rauen Rand-Berlin. Nur gut, dass Thomaes psychologischer Blick für ihre Figuren dieselben entlarvt und sie uns damit doch nahebringt. Denn das Gespür der Autorin für Witz und Timing ist bemerkenswert – heißt oft: Man würde ja weinen, wenn man nicht lachen müsste. Zum Beispiel wenn Maren über ihre Sinnkrise und die zahllosen Sitzungen mit ihrer Psychotherapeutin nachdenkt: „Indem sie ihre Krise regelmäßig in Worte fasste, hatte sie immerhin das Gefühl gehabt, etwas zu tun. Nach etwa zwei Jahren war ihr aufgefallen, dass es sich bei dem, was sie da besprachen, nicht um eine temporäre Krise handelte, sondern um ihr Leben. Sie setzte die Therapie fort. Ihr Zustand wurde in Kapitel unterteilt. Mülltrennung ist kein freundliches Wort, traf es aber ganz gut.“ Der sitzt.

„Kann echt kein Schwein ahnen, dass ich nicht happy bin“, denkt Schubi nach seinem Millionengewinn. Also Sandra verlassen? Schubi baut sich einen Joint und bastelt eine Pro-und-Contra-Liste: „Für Sandra spricht, dass sie da ist. Denn die meisten Frauen, die gut aussehen und was in der Birne haben, ziehen nach der Schule fluchtartig in die Stadt. Sandra hat so mittel was in der Birne und sieht mal so, mal so aus, hat aber ständig Sex mit ihm. Plus.“ Andererseits: „Er ist reich. Schubi denkt an die Frauen reicher Typen. Jünger als die Typen, dünn, selber reich oder wichtig, anstrengend. Auf Sandras Liste klimpert es: Minus Minus Minus.“

Auch hier könnte man los­prusten. Wenn man sich in Schubi nicht auch selbst erkennen würde. Pay-off. Jackie Thomae hat einen Roman geschrieben, der anfasst. Irgendwo auf den Seiten dieses Buches finden wir uns selbst wieder, heulend, lachend, verliebt, verlassen – immer auf der Suche. Denn Alter schützt vor Liebe nicht, stellt Susanne gerührt fest, als sie erfährt, dass sich ihr siebzigjähriger Vater frisch verliebt hat und eine Asienreise plant. Dann erleidet er einen Schlaganfall. Scheiße, denkt man und: So ist das Leben. Pay-off. So ist dieses Buch: unerbittlich und urkomisch. Listenklimpern: Plus Plus Plus.

Jackie ­Thomae:„Momente der Klarheit“. Hanser Berlin, Berlin 2015, 288 Seiten, 19,90 Euro

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