Blick zurück aus dem Jetzt

Festival Das Sommerfestival auf Kampnagel begibt sich dieses Jahr auf die Spuren der Avantgarde. Mit Understatement: Den roten Faden durchs dicht geknüpfte Programm soll man für sich selbst finden

Singt von der Liebe in Zeiten des Hasses: der syrische Hochzeitssänger Omar Souleyman Foto: Rasmus Nautrup Jensen

von Robert Matthies

Theater nicht als Abarbeiten am Fundus, sondern als Analysetool für die Gegenwart. Ein radikal im Jetzt stehender Umgang mit der Tradition der Avantgarde. Pop als Strategie, Kritik zeitgemäß zu formulieren. Ein anderes Verständnis künstlerischer Strategien, die auf flache Hie­rarchien und intensiven Dialog untereinander setzen. Und immer wieder: Komplizenschaften, Ansteckungen, Öffnungen und nicht auf den ersten Blick zu erkennende Verknüpfungen. Selbstbewusst führt András Siebold, seit drei Jahren künstlerischer Leiter des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel, sein Konzept fort.

Prall gefüllt ist das Programm auch diesmal, rund 20 Konzerte, sieben Tanzproduktionen, Theater, etliche Kunst-Installationen, Performances und jede Menge Theorie und Kritik präsentiert das dreiwöchige „Kunstplanschbecken“ – wie Siebold es treffend im Programmheft nennt, in den ersten drei Augustwochen. Ein Programm, das schon vorm Festival-Besuch eine Bedienungsanleitung und einige Aufmerksamkeit erfordert.

Aber auch, wer erst mal nur ein wenig sommerlich planschen will, kann sich von den Unterwasserströmungen mitreißen lassen: Von überall aus kann man sich in diesem Planschbecken in alle Richtungen treiben lassen. Auf dem Trockenen landet niemand. Denn gerade das gibt es hier neben lauter für sich interessanten Einzelveranstaltungen wieder zu entdecken: ein dicht geknüpftes Gewebe quer durch alle Events, dessen Fäden man oft erst auf den dritten oder vierten Blick erkennt.

Aufbruch heißt einer der längsten von ihnen. Und mit ihm beginnt das Festival auch. Gleich zu Beginn nämlich ist eine Arbeit zu sehen, die „wie eine Blaupause der Avantgarde arbeitet“, erklärt Siebold. 1983 taten sich der Minimal-Music-Protagonist John Adams, die postmoderne Tänzerin und Choreografin Lucinda Childs und der dekonstruktivistische Architekt Frank Gehry zusammen. Gehry war unter anderem verantwortlich für „Signature-Architecture“ und Touristen-Attraktionen wie das Guggenheim-Museum in Bilbao, die Walt Disney Concert Hall in Los Angeles, aber auch den Facebook-Campus in der Nähe von San Francisco.

„Available Light“ nannten sie ihre gemeinsame Arbeit anlässlich der Eröffnung des Museum of Contemporary Art in Los Angeles. Eine ortspezifische Arbeit, die aber jetzt wiederholt werden soll. Siebold erklärt das so: Man sehe darin eine Entwicklung, „die auch bei uns eine große Rolle spielt“. An einem anderen Ort, in Gehrys Walt Disney Concert Hall, mit einem neuen Bühnenbild und neuen Kostümen. Eine komplette Neufassung, die ganz anders aussieht als das Original. „Ein Avantgardeklassiker wird neu gelesen“, sagt Siebold, „mit der Erfahrung des Jetzt.“

Dieser Umgang mit einer bestimmten Tradition aus der Erfahrung des Gegenwärtigen, sie spielt auch in den anderen Tanzproduktionen in diesem Sommer eine große Rolle. Gleich drei bedeutende Werke der Ballettgeschichte des 20. Jahrhunderts etwa rekonstruiert die renommierte Compagnie Ballet de Lorraine aus Nancy.

Beginnend mit Merce Cunninghams „Sounddance“ aus dem Jahr 1975 schlägt das Tanz-Tryptichon einen Bogen über William Forsythes Ballettdekonstruktion „Duo“ von 1996 zu Cecilia Bengoleas und François Chaignauds aktueller Choreografie „Devoted“ – die wiederum die Anfänge des modernen Tanzes um 1900 aufgreift und mit Musik Philipp Glass’ verbindet.

Das junge Duo, das nun auch zu den ersten Choreografen gehört, die am Tanztheater Wuppertal das Erbe Pina Bauschs für neue Konzepte öffnen sollen, arbeitet sich an Differenzen ab: Während der Franzose Chaignaud als klassisch ausgebildeter Tänzer von historischen Referenzen ausgeht, ist die Argentinierin Bengolea beeinflusst von Elementen aus der Clubkultur wie Vogueing, Twerking und den Einflüssen jamaikanischer Dancehalls. „Ihre Arbeit zeigt, wie Avantgarde heute noch funktioniert: Aufbrüche und Ablösung von der Tradition“, so Siebold.

Das gibt es neben interessanten Einzelveranstaltungen wieder zu entdecken: ein dicht geknüpftes Gewebe quer durch alle Events, dessen Fäden man oft erst auf den dritten oder vierten Blick erkennt

Auch Florentina Holzinger und Vincent Riebeck, die sich im letzten Jahr mit ihrem düsteren Stück „Wellness“ am modernen Körperkult abgearbeitet haben, zitieren Ballettgeschichte ebenso wie Popchoreografien. „Schönheitsabend“ heißt ihre aktuelle Choreografie, die sich mit berühmten Tanzpaaren aus der Avantgardegeschichte beschäftigt. Ausgehend von Paaren wie Vaslav Nijinsky und Ina Rubinstein oder Anita Berber und Sebastian Droste dreht sich der Abend um Transgression und die Überwindung der eigenen Grenzen. Und landet im dritten Teil ebenfalls im Jetzt: Holzinger und Riebeck stellen ihre eigene transgressive Ästhetik vor.

Ein ganzes Knäuel von Fäden lässt sich im Programm finden: Eine große Rolle spielt etwa auch die Abkehr vom spezifisch europäischen Blick auf immer noch zu oft als fremd und anders erlebte lokale Kulturen andernorts.

Auch hier wird die Richtung umgekehrt: Der Syrer Omar Souleyman verknüpft seine traditionelle Arbeit als Festsänger mit Beats, die er von You­tube kennt. Heraus kommt fiebrige Musik, die auf Tanzflächen rund um die Welt funktioniert. Dabei macht er im Grunde nichts anderes als andere immer schon: Von der Liebe singen, auf Hochzeiten aller Religionen und Bevölkerungsgruppen.

Das aber klingt heute wieder wie Zukunftsmusik: Souleyman stammt aus Ra’s al-‘Ain, kurdisch: Serê Kaniyê, an der Grenze zur Türkei. Gerade wurde die Stadt von der syrisch-kurdischen YPG/YPJ vom Islamischen Staat befreit.

Mi, 5.8., bis So, 23.8., Kampnagel, Jarrestraße 20, Hamburg