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Sprunghafte Verdichtung

MOTHER INDIA „Pakeezah“, zum Auftakt der Wassermusik-Filmreihe im HKW, ist einer der ungewöhnlichsten indischen Filme

Kinematografisches Nationalepos: Namensgeber für die Reihe im Haus der Kulturen der Welt war der Film „Mother India“ von 1957 Foto: Promo

VON EKKEHARD KNÖRER

Rot ist der Sari, in dem Sahibjaan tanzt, im Hintergrund zwei Frauen in weißen Kleidern. Rot ist der Kronleuchter, dessen Lichter erlöschen, während im Palast weiter hinten das Wasser des Springbrunnens niedersinkt und nicht mehr aufsteigt. „Chalte Chalte“ singt Sahibjaan, während sie tanzt, es ist der vielleicht berühmteste Song dieses Films, einer der bekanntesten der noch viel berühmteren Sängerin Lata Mangeshkar. Sehnsüchtig blickt Sahibjaan am Ende der Szene hinaus in die Ferne, denn in einem Zug begegnete ihr der Mann, von dem sie sich Erlösung aus ihrem Leben als noble Kurtisane ersehnt. Rot sind in einer Song-and-­Dance-Sequenz gegen Ende die Spuren ihrer blutigen Füße auf weißem Stoff: Diese Geschichte ist aus Tragik gewirkt.

„Pakeezah“ heißt der Film aus dem Jahr 1971, mit dem das Haus der Kulturen der Welt seine Reihe „Mother India“ eröffnet. Das ist eine sehr schöne Wahl, denn es ist eines der ungewöhnlichsten Werke der indischen Filmindustrie, die der Westen später zum Verdruss mancher ihrer Vertreter Bollywood zu nennen begann. Die Geschichte dieses Kinos reicht weit zurück, sie ist voller verrückter, magischer, tragischer, in Indien selbst, aber auch im weiteren asiatischen Raum und bis nach Afrika und in die Türkei über Jahrzehnte verehrter Darsteller, bewunderter und geliebter Filme und auf den Straßen gesungener Songs.

„Pakeezah“ ist dabei nicht so bekannt, wie es „Mother India“ oder „Awaara“ sind, zwei der größten Klassiker, die die Reihe ebenfalls zeigt. Es ist ein Film mit eigentümlicher Entstehungsgeschichte, die sich über vierzehn Jahre erstreckt. Die Hauptdarstellerin Meena Kumari war in den meisten Szenen, die man nun sieht, todkrank, beim Tanz wurde sie in vielen Einstellungen gedoubelt, sie starb kurz nach der Uraufführung des Films an Leberzirrhose. Auch der Komponist Ghulam Mohammed verstarb während des Drehs. Regisseur und Drehbuchautor Kamal Amrohi, noch dazu ein Perfektionist, kämpfte also mit einem Werk, das ihm schon in der Entstehung unter den Händen zerfiel.

Die Schönheit der Kostüme, der Ausstattung und Bilder ist sagenhaft, in dieser Hinsicht ist „Pakeezah“ ein Traum

Man merkt das und auch wieder nicht. Die Schönheit der Kostüme, der Ausstattung und der Bilder ist sagenhaft, in dieser Hinsicht ist „Pakeezah“ ein Traum. Auch dass Lichtstimmungen nicht zueinander passen, ist noch normal; in solchen Dingen hat dieses Kino keine peniblen Realismusansprüche. Die Geschichte selbst aber springt über Stock und Stein, lässt Lücken, erklärt wenig, plötzlich sind da als eine Art deus ex machina Elefanten, auf einer einsamen Insel begegnet Sahibjaan gegen jede Wahrscheinlichkeit dem Mann aus dem Zug wieder, der da als Wildhüter lebt. Regisseur und Autor Amrohi ist, mit einem Wort, kein großer Erzähler im klassischen Sinn. Er war Lyriker, hat – was ungewöhnlich ist – die Dialoge und sogar die Texte der Songs im poetischen Urdu teils selbst geschrieben. Er ist ein Meister der Intensitäten, der Verdichtung, des sprachlichen Bilds, der grandiosen Momente. „Pakeezah“ ist darum kein Film, der fließt, sondern einer, der ruckartig innehält und ebenso ruckartig dann wieder springt und sich an die nächste Szene verliert.Da ist „Awaara“ (1951) mit westlichen Vorstellungen vom Kino schon kompatibler. Regisseur und Hauptdarsteller Raj Kapoor, einer der ersten Superstars des indischen Films, hat sich in seiner Figur sehr bewusst an Chaplin orientiert. Der Film erzählt die Geschichte einer Wiederbegegnung von Kindheitsfreunden: Während Raj auf die schiefe Bahn geriet, ist Rita zur erfolgreichen Anwältin geworden. Der Song „Awaara Hoon“ ist bis heute im kollektiven Gedächtnis Indiens präsent.

Nargis, der Darstellerin der Rita, kann man in „Mother India“ (1957) wiederbegegnen, dem kinematografischen Nationalepos, episch auch in seiner Länge von fast drei Stunden. Die Geschichte von Liebe und Hass zwischen Mutter und Sohn, die „Mother India“ erzählt, hat noch jeden, der den Film sah, aufgewühlt. Wer sich einlässt, kann sich an diesen Film und an das indische Kino verlieren. Wer es noch nicht getan hat, hat in dieser Reihe die Gelegenheit, ein paar der größten Klassiker des Weltkinos kennenzulernen.

Programm der Film- und Kon­zert­reihe Wassermusik– Mother India(bis 8. 8.): www.hkw.de

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