: Der Aufstand der Braven
TROTZALTER Aus eben noch lieben Kleinkindern werden Wüteriche. Familientherapeut Manfred Cierpka erklärt, wie Eltern damit umgehen sollten
■ ist Ärztlicher Direktor des Instituts für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie am Universitätsklinikum Heidelberg. Dort leitet der 59-Jährige die „Sprechstunde für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern“. Zudem entwickelte er für Kindergärten und Schulen das Programm „Faustlos“, das Kindern hilft, mit Ärger und Wut umzugehen und Konflikte gewaltfrei zu lösen.
taz: Herr Cierpka, Einjährige werfen sich zu Boden, schreien, toben. Entwicklungspsychologen nennen das Trotzphase. Warum rebellieren Kinder plötzlich?
Manfred Cierpka: Kinder streben Monat für Monat nach mehr Autonomie. Sie entdecken ihren eigenen Willen und wollen sich abgrenzen, indem sie ihre Wünsche äußern. Das ist ein Meilenstein für sie. Natürlich können Eltern die Wünsche nicht immer erfüllen. Es hängt aber von ihrem Geschick ab, wie sich Trotz äußert.
Wie lange dauert das Trotzalter?Es beginnt mit rund 15 Monaten und dauert bis etwa zum dritten Lebensjahr. Wichtig ist, dass Eltern verinnerlichen: Trotzen ist keine Ablehnung und gegen niemand gerichtet, kein Machtspiel und kein Ungehorsam. Das Kind ist wütend, weil es an seine Grenzen stößt. Es braucht nun Hilfe, damit es lernt, wie es mit Emotionen – zum Beispiel Verzweiflung – umgehen kann.
Was können Eltern bei einem Trotzanfall tun?
Das Beste ist: Das Kind ablenken. Etwa sagen: „Schau mal, dort fliegt ein Schmetterling!“ Das funktioniert zu 90 Prozent und ist gut fürs Kind. Denn dann muss es die Enttäuschung, etwa weil es kein Bonbon bekommt, nicht durchleben. Wirkt Ablenkung nicht, äußert sich die eigentliche Frustration mit einem noch heftigeren Wutanfall.
Und dann …?
… sollten Eltern beim Kind bleiben. Manche lassen es ja schreiend liegen, sagen: „Jetzt krieg dich erst mal selbst ein, und dann kommst du zu mir.“ Das rate ich nicht. Dann fühlt sich das Kind als Verlierer. Nein, Eltern sollten in dieser Situation, wenn sich das Kind hilflos fühlt, bei ihm bleiben und mit Trost dazu beitragen, dass es seine Emotionen regulieren lernt.
Würde da nicht eine Strafe helfen – nach dem Motto: Wenn du nicht ruhig bist, nehme ich dein liebstes Spielzeug weg?
Nein, Sanktionen helfen nicht. Das Kind versteht sich in dem Moment selbst nicht. Appelle kommen nicht an. Wieder müssen sich Eltern deutlich machen: Das Rebellieren und Aufbegehren ist nicht bösartig, das ist wichtig und gut für die kindliche Entwicklung, um Gefühle kanalisieren zu können. Erst mit ungefähr zwei Jahren beginnen Kinder einen Austausch- und Aushandlungsprozess zum Beispiel um Süßes oder Freiheiten. Dann müssen Eltern Grenzen setzen, Regeln vereinbaren, die eventuell auch Strafen beinhalten – da fängt Erziehung an.
Können Eltern Trotzanfällen mit Erziehung vorbeugen?
Eltern wissen, wann es zu einer Enttäuschungsreaktion kommen kann, und steuern dies intuitiv. Immer gelingt das nicht. Etwa wenn an der Supermarktkasse Süßes steht und das Kinder das haben möchte. Ganz kleine Kinder werden dann „Nein!“ schreien – da hilft nur Ablenken. Mit einem Dreijährigen sollten Eltern vor dem Einkauf vereinbaren: „Du darfst dir eine Süßigkeit aussuchen. Aber nur eine, okay?“ Wenn er dann doch mehr will, muss man Grenzen setzen, auch wenn er tobt.
Konsequenz ist also elementar.
Ja. Bei oppositionellem Verhalten von Kindern und bei Ungehorsamkeiten machen viele Eltern einen Fehler: Sie ziehen Grenzen, drohen mit Strafen, setzen die aber nicht um. Entweder haben sie nicht die Kraft dazu, oder es waren zu drastische, unrealistische Strafen. Fazit: Die Kinder nehmen die Eltern nicht mehr ernst.
Welche äußeren Faktoren beeinflussen das Trotzen?
Ein autoritärer Erziehungsstil zum Beispiel. Eltern, die auf Gehorsam pochen, provozieren den Willen des Kindes als Gegenreaktion. Das Kind hat in dieser Beziehungsstrategie nur zwei Möglichkeiten: Entweder es widersetzt sich besonders hartnäckig, oder es passt sich an. Beides ist nicht förderlich. Ich propagiere eine partnerschaftliche Erziehung, bei der Eltern die Persönlichkeit des Kindes respektieren. Zudem sind kindliche Trotzanfälle bei überforderten Eltern häufiger, weil Mütter oder Väter zu wenig Zeit für die Kleinen haben. Gestörte Eltern-Kind- oder gestörte Paarbeziehungen verstärken das Trotzverhalten. Es gibt aber auch andere Einflüsse, die den Trotz fördern und in der Biografie der Eltern begründet sind. Wenn etwa der eigene Vater als sehr einschränkend erlebt wurde, empfindet man später mit größerer Wahrscheinlichkeit jede Regung des eigenen Kindes als Trotz. Wenn das zehn Monate alte Baby wegkrabbelt, meint jener Vater, es ist trotzig, obwohl das nicht der Fall ist. So kommt es zu Konflikten.
Trotzanfälle können ausufern – wann sollten sich Eltern Hilfe holen?
Wenn Kinder sich selbst verletzen. Eltern sollten sich aber auch Rat holen, wenn sie Gefahr laufen, dem Kind wehzutun oder zu schaden. INTERVIEW: JANET WEISHART