zwischen den rillen: Improvisation aus Glas
Four Tet: „Morning/Evening“ (Text Records/Import)
Verschiedene Künstler: „Art &Sound: Sounds of the Universe 2012-2015“ (Soul Jazz/Indigo)
Vielleicht hat sich elektronische Tanzmusik zu Tode gesiegt. Aus westeuropäischer Perspektive sind die Bastionen des Rock längst geschleift, selbst auf den großen Popfestivals Roskilde und Glastonbury gehören Dance-Acts zu den Headlinern – je mehr Spuren ihre Rechner abfeuern, desto besser. Parallel dazu entsteht mit analogem Equipment und selten benutzten Samples eine Art Digger-Electronica für Auskenner: der Indierock des EDM-Zeitalters. Auf der Strecke geblieben ist dabei die lockere Unschärfe einer Musik, die entstanden ist, als die Maschinen neu und die mit ihnen produzierte Musik noch nicht ausformuliert war.
Der britische Produzent Kieran Hebden hat diese Unschärfe zu seiner Klangästhetik gemacht. Als Four Tet hat er in der Vergangenheit Akustikgitarren und Jazzdrums mit HipHop-Grooves zu verspulten elektronischen Tracks für zu Hause gemischt. Dann nahm er die Sounds des Hardcore Continuums – Jungle und Garage – und produzierte damit entrückte Dancetracks für den Club.
Für die beiden Tracks seines neuen Albums „Morning/Evening“ bedient er sich bei den durchchoreografierten Bollywood-Produkten. Seine Werkzeuge sind dabei simpel gehalten: ein Sequencerprogramm, wenige Plug-ins, ausgesuchte Samples und Field Recordings. Im Mittelpunkt steht ein Raga-Gesangssample aus einem indischen Film von 1983. Heden umgeht die alte Falle von Ethnokitsch, indem er das Sample mit Bedacht einsetzt, filtert, cuttet und mit Dub-Techniken immer wieder in ein anderes Zeitraster überführt.
„Morning/Evening“ lebt von einem Kontrast, den Hebden perfektioniert hat. Seine Stücke sind durchkonstruierte Collagen, die sich ihre Leichtigkeit von ihren Samplequellen geborgt haben. Auf „Morning/Evening“ hat Hebden es aber übertrieben mit der Leichtigkeit. Zu häufig verlieren sich die beiden zwanzigminütigen Stücke in Synthie- und Effektgeklimper.
Eine Art interessante Fingerübungen findet man auf der Kopplung „Art&Sound: Sounds of the Universe 2012–2015“, veröffentlicht vom Londoner Soul-Jazz-Label. Die Compilation ist nach dem gleichnamigen Plattenladen des Labels in Soho benannt und versammelt Tracks, die zur Hälfte als 7-inch-Single erschienen sind – sie kommen also auf den Punkt. Einzig der Leipziger DeepHouse-Produzent Kassem Mosse dehnt seinen minimalistisch-analogen Beitrag „Stadt aus Glas“ auf zwölf Minuten. „Sounds of the Universe“ ist aber nicht nur eine Singles-Compilation, sondern betreibt Geschichtsschreibung im nichtpositivistischen Sinn. Sie zeigt auf, wie unterschiedliche Elektronikproduzenten – leider nur Männer – an unterschiedlichen Orten eine gemeinsame Art entdeckt haben, die Maschinen unscharf klingen zu lassen. Dabei sind Genre und das verwendete Equipment zweitrangig.
Andres aus Detroit produziert samplebasierten House, DJ Stingray (ebenfalls Detroit) zelebriert Elektro mit alten Digitalsynthesizern. Der mittlerweile in Berlin lebende Brite Heatsick spielt seine Noise-Synthie-Pop-Tracks auf einem billigen Casio-Keyboard mit einer Reihe von Effektpedalen ein und Hieroglyphic Being aus Chicago erzeugt den Lo-Fi-Futurismus seiner Tracks mit einem alten Drumcomputer und einem iPod-Touch.
Gemeinsam haben alle Künstler aber, dass sie mit beschränkten Mitteln den Maschinen einen Signatursound entlocken, der nicht auf die Maschinen zurückfällt: Die grobe Kühlheit eines Stingray-Tracks ist ebenso einzigartig wie der lockere Latin-Groove von Andres.
Letztendlich ist „Sounds of the Universe“ das gelungene Zeugnis einer Retro-Bewegung, Retro jetzt in einem guten Sinne gemeint. Anstatt mit elektronischen Mitteln eine Rockshow zu emulieren, nähert man sich wieder der Eigenschaft der Improvisation, wie sie einst ja mal das Bindeglied zwischen Jazz, frühem Techno und Electro war.
Christian Werthschulte
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen