: Die alten Gedenkmuster passen nicht mehr
SCHULE In der Einwanderungsgesellschaft gibt es keine dominante Erinnerungskultur mehr. Wer in Klassen mit vielen Migranten über die Nazizeit spricht, kommt um den Nahostkonflikt häufig nicht herum
■ Ziel der Schule „muss die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten“, so heißt es in Paragraf 1 des Berliner Schulgesetzes.
■ Die Rahmenpläne der Berliner Schulen sehen die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus erstmalig im 1. Halbjahr der 10. Klasse vor. Die SchülerInnen sollen dabei verstehen lernen, „dass Demokratie nie auf alle Zeit gefestigt und gesichert ist, sondern dass sie stets von neuem aktiv bejaht und kritisch hinterfragt, erneuert und verbessert werden muss“ und „immer auch aktive Demokraten braucht“. Genaue Lernziele oder -wege formuliert der Rahmenplan nicht, Pflicht sind die Behandlung des Holocaust sowie des Zweiten Weltkriegs und der Naziideologie.
■ AbiturientInnen beschäftigen sich dann noch mit „Handlungsspielräumen historischer Akteure“, mit Widerstand sowie erneut mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Ziel ist laut Rahmenplan neben dem Erwerb historischen Wissens auch das Erlernen des Umgangs mit historischen Quellen und ihrer Analyse.
■ In der Sekundarstufe 2 ist der Besuch eines „außerschulischen Lernorts“ für Grund- ebenso wie für Leistungskursschüler verbindlich. Der Rahmenplan für die Sekundarstufe 1 weist ausdrücklich auf das „reichhaltige geschichtskulturelle Angebot“ Berlins und die vielen „Baudenkmäler aus nationalsozialistischer Zeit“ hin, die „vielfältige Möglichkeiten für erforschende Exkursionen“ böten.
VON DMITRIJ KAPITELMAN
„Habt ihr Schuld an den Verbrechen der Nazis?“, fragt Nalan Kilic das Dutzend 13-jähriger Schüler. Die wissen nicht so recht, was sie von dieser Frage halten sollen. Sie sollen für die Ermordung von sechs Millionen Juden verantwortlich sein? „Uns gab es da doch noch gar nicht“, flüstert Mutluhan schließlich unsicher.
Nalan Kilic gehört zu den 3 Prozent deutscher Lehrer mit Migrationshintergrund. Die Tochter türkischer Arbeiter wurde 1969 in Berlin geboren und unterrichtet Deutsch und Politik. Auch ihre 9. Klasse an der Kreuzberger Carl-von-Ossietzky-Schule besteht ausschließlich aus türkischstämmigen Kindern, da sie zum türkisch-deutschen Zweig der Europaschule gehört. Doch auch in den anderen Klassen kommen knapp 90 Prozent der SchülerInnen aus Einwandererfamilien. Eine Tochter türkischer Einwanderer stellt deren Enkeln die deutsche Schuldfrage – ergibt das Sinn?
Dass Deutschland eine Einwanderergesellschaft ist, spiegelt sich nirgendwo deutlicher wider als an den Schulen. Es ist keine Seltenheit in Berlin, dass sich Kinder aus 30 verschiedenen Herkunftsländern ein Klassenzimmer teilen. Eine dominierende Erinnerungskultur gibt es nicht – nicht mehr. Für Geschichtsunterricht über Nationalsozialismus heißt das auch: Die einfache Täter-Opfer-Schablone passt nicht mehr. Die Schüler und ihre Familien haben völlig verschiedene Zugänge zur Nazizeit. Und wenn über das Schicksal der Juden gesprochen wird, ist gerade in Klassen mit vielen Kindern arabischer Herkunft der Nahostkonflikt automatisch auch Thema.
Wie lässt sich Deutschlands Schande an Jugendliche unterschiedlicher Herkunft vermitteln? Wie kann ein gemeinsames historisches Bewusstsein entstehen, sodass – ganz im Sinne des Schulgesetzes – am Ende diktaturresistente Demokraten die Schule verlassen, die sagen, dass das nie wieder geschehen darf?
Die Oberstufe der Carl-von-Ossietzky-Schule hat sich dafür Hilfe von außen geholt. Für die Projektwoche mit der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) hatten die SchülerInnen die Wahl zwischen den Themen NS und Nahost – sie haben sich für Letzteres entschieden. „Vielleicht wäre es ja ein guter Anfang, einen gemeinsamen Staatsnamen zu finden. So wie Palisrael.“ Sirin, in pinkfarbenem Pulli und mit Make-up, hat lange gezögert, ihren Vorschlag auszusprechen. Mitschüler Burhan fährt sie prompt an: „Ey, bist du dumm oder was? Mit denen? Einen Namen? Du willst ja auch nicht, dass es hier Türkschland heißt.“
Die KIgA – eben mit dem Paul-Spiegel-Preis für Zivilcourage des Zentralrats der Juden in Deutschland ausgezeichnet – versucht alte Ressentiments aus jungen Köpfen zu holen. Dafür dürfen in ihren Projektstunden auch mal Sachen gesagt werden, die die SchülerInnen in der Klasse sonst vielleicht nicht aussprechen. KIga-Mitarbeiterin Anne Goldenbogen lobt Sirin für ihren „interessanten Vorschlag“.
Nachfragen, aufklären
Karin Diekheuer unterrichtet seit 30 Jahren Geschichte an der Ossietzky-Schule. Sie hat die Veränderungen der Schülerschaft miterlebt und erklärt, warum man beim Thema Nationalsozialismus so schnell beim Nahostkonflikt landet: „Für unsere türkischen und arabischen Jugendlichen ist der Nahostkonflikt viel näher als die NS-Vergangenheit. Ihr Umfeld befasst sich sehr stark damit, und sie nutzen viele einseitig berichtende arabische Medien. Das kann zu einem unterschwelligen Antisemitismus in den Klassen führen.“ Kollegin Kilic berichtet auch von Hardlinern: von Schülern, die sagen, dass der Holocaust den Juden ganz recht geschah. Einig sind sich beide Lehrerinnen darin, dass dieser Antisemitismus aber nur oberflächlich sei – kein abgeschlossenes Weltbild, lediglich aufgeschnappte Vorurteile, die mit etwas Nachfragen und Aufklären zu beheben seien.
KIgA-Mitarbeiterin Goldenbogen mutet den SchülerInnen viel zu: Die Geschichte des Verhältnisses von Israelis und Palästinensern seit dem 19. Jahrhundert, der Zweite Weltkrieg, die Rolle der britischen Besatzungsmächte, die Staatsgründung Israels – alles an einem Vormittag. Hinzu kommt, dass die Leistungsfähigkeit der Schüler stark schwankt. Während ein paar schon mit dem nächsten Blatt weitermachen wollen, haben andere Schwierigkeiten, den ersten Text überhaupt richtig zu lesen. Das größte Problem der Juden ist hier kein abgeschlossenes Weltbild, sondern Konzentrationsschwäche und Smartphones.
Bei der Feedbackrunde scheint es, als hätten die KIgA-Leute ihr Ziel erreicht. Defne findet, dass irgendwie beide Seiten Schuld haben und die Briten eigentlich auch. Die Runde nickt. Hakan hat gar nicht gewusst, dass „Israel so viel auf dem Kasten hat“. Seinen Kumpel wird er später trotzdem als Juden necken. Goldenbogen und ihr Team sind zufrieden. Besonders, weil sich die Klasse einen Tag zuvor ganz anders präsentiert hat. „Als wir sie gestern baten, Plakate zu basteln, stand noch ‚Israel = Kriegsverbrecher‘ drauf.“
Die Schüler würden darauf brennen, endlich mal offen ihre Meinung sagen zu dürfen, berichtet Goldenbogen. Deshalb seien außerschulische Projekte wie ihres so wichtig: „Wenn ein Schüler sagt, dass alle Juden eine Verschwörung planen, sagen wir nicht: Das darfst du nicht denken. Wir fragen: Warum denkst du das?“
Kann es so einfach sein? Nein, glaubt Gabriele Rohmann. „Antisemitismus ist ein tief liegendes Problem. Workshops können sensibilisieren, lösen können sie es nicht.“ Die Sozialwissenschaftlerin ist Projektleiterin von New Faces, einem Verein, der ebenfalls in Schulen Projekte gegen Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft macht. Sie nutzen dafür populäre Jugendkultur. „Wir lassen die Schüler zum Beispiel Comics malen, in denen sie sich vorstellen müssen, dass sie ein KZ-Wärter sind“, erzählt Rohmann. Ein Kind malte, dass es Koch im KZ wird. Den Juden gibt er immer gutes Essen, und den Nazis mischt er Durchfallpulver bei. Dann rennen die Wächter aufs Klo, und alle Gefangenen fliehen. Happy End.
Bei Kindern mit Migrationshintergrund funktioniere ein weiterer Zugang, so Rohmann: Bevor man mit ihnen über Antisemitismus spreche, müsse man sie fragen, ob auch sie diskriminiert werden. „Wieso sollten sie sich mit den Problemen anderer Minderheiten befassen, wenn keiner nach ihren fragt?“
Gegen die Gleichgültigkeit
Ortswechsel: Das Jugendforum denk!mal hat ins Abgeordnetenhaus eingeladen. Motto des Abends ist ein Zitat der Widerstandgruppe Weiße Rose gegen den Nationalsozialismus. Es lautet: „Den Mantel der Gleichgültigkeit zerreißen.“ Schulklassen, junge Theatergruppen und Jugendcafés präsentieren Projekte gegen Rassismus, darunter einige zur Nazizeit. Zwei Jungs, zwei Mädchen türkischer Herkunft präsentieren ihren NSU-Rap: „Was NSU? Scheiß Nazicrew! Mir egal, dir egal – so denkst du!“ Beim zweiten Durchgang rappt das halbe Publikum mit – die selbst erlebte Bedrohung als Zugang zur NS-Vergangenheit.
Zurück in der Klasse 9 der Kreuzberger Carl-von-Ossietzky-Schule. Lehrerin Nalan Kilic fragt wieder in die Runde: „Und die deutschen Kinder? Haben sie Schuld an den Naziverbrechen?“ Deniz meldet sich: „Nein, die gab’s ja damals auch noch nicht.“ Ob denn jemand jüdische Freunde habe, fragt Kilic. Atacan hebt als Einziger den Finger: Ja, er habe einen jüdischen Nachbarn. „Und redet ihr über das, was im Nationalsozialismus geschehen ist? Oder darüber, ob ihr unterschiedlich seid?“ Atacan sagt: „Nein, wir spielen immer nur zusammen Fußball.“