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Ghettoblaster und Blasmusik

Festival Bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen war auch die deutsche Erstaufführung von „En avant, marche!“ des belgischen Grenzgängers Alain Platel mit von der Partie

von Regine Müller

Alain Platel ist unter den Choreografen ein Sonderfall: Die Arbeiten des belgischen Autodidakten, der Sozialarbeiter war und in der Psychiatrie arbeitete, sind stets im besten Sinne des Wortes grenzwertig. Sie überschreiten die Grenzen zum Schauspiel, zur Perfomance, zum Musiktheater und zum Konzert und eröffnen immer wieder einen verstörend direkten Zugang zur Musik. Auch und gerade, wenn sie sich der abgewetzten Evergreens des Klassik-Kanons bedienen und diese scheinbar unbekümmert fleddernd zu bestürzender Vitalität erwecken. „C(h)oeurs“ von 2012 war so ein Projekt, wo Platel vorausblickend auf das Wagner-­Verdi-Jubiläumsjahr sich die Chöre aus deren Opern vorknöpfte

Der verstorbene Gerard Mortier war ein großer Förderer Platels und brachte dessen Kreationen bei der Ruhrtriennale heraus. Mortiers damaliger Chefdramaturg Thomas Wördehoff, der inzwischen Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele ist, holte nun die deutsche Erstaufführung von Platels neuestem Coup „En avant, marche!“ in die Barockstadt vor den Toren Stuttgarts.

Diesmal hat Platel sich von einer Fotoausstellung in Gent inspirieren lassen, die Porträts von Laien-Blasmusikern mit ihren stolz präsentierten Instrumenten zeigte und damit Platels Interesse für Blasmusik-Ensembles weckte. Er entdeckte zur eigenen Überraschung, dass dieser von der Hochkultur weitgehend ignorierte Musikbereich alles andere als ein Randphänomen ist: „Jede kleine Stadt hat ein solches Blasorchester, das bei besonderen Anlässen spielt, an Feiertagen, Festen oder auf Beerdigungen.“

Weil aber auf der Hand liegt, dass eine bayerische Blaskapelle nicht viele Gemeinsamkeiten mit einer Bergmannskapelle aus Oberhausen besitzt, hat Platel sich entschieden, an jedem Ort, wo „En avant, marche!“ gespielt wird, mit dem jeweils örtlichen Blasmusik-Ensemble zusammen zu arbeiten. Blasmusik? Ist das wirklich mehr als bierseliges Brauchtum, Schützenzelt, steife Prozession und plärriges Marschmusik-Humtata?

Wenn in Ludwigsburg die Laienbläser des Musikvereins Ludwigsburg-Oßweil und der Stadtkapelle Ludwigsburg die Bühne entern, haben die Tänzer, Schauspieler und Musiker aus Gent bereits ganze Arbeit geleistet und mit einer mehr angedeuteten als erzählten Geschichte eine zwischen Rührung und Komik vibrierende Stimmung erzeugt, der die Laienmusiker sich buchstäblich auf Zehenspitzen und in Zeitlupe nähern.

Mann mit Blume im Mund

Pirandellos Dialog „Der Mann mit der Blume im Mund“ steht am Beginn des Abends: Wim Opbrouck spielt einen dem Tode geweihten Krebskranken, der Posaunist war, aber aufgrund der Krankheit nicht mehr spielen kann. Opbrouck betritt die Bühne in Blasorchester-Uniform und lässt einen Ghettoblaster laufen. Ganz leise zirpt das „Lohengrin“-Vorspiel aus der Kiste, Opbrouck sitzt da mit zwei Becken und wartet auf seinen Einsatz. Dann spult er vor, es dauert ihm zu lang. Endlich darf er zwei Mal die Becken krachen lassen. Aber das ist kein Ersatz für die warm tönende Posaune, die ungespielt abseits liegt.

Blasmusik? Ist das mehr als Schützenzelt und plärriges Marsch-Humtata?

Mit dieser kleinen, traurigen Miniatur bereiten Platel und sein Ko-Regisseur Frank Van Laecke den emotionalen Raum, in dem der ganze Abend spielt: zwischen (Liebes-)Leid, drohendem Verlust, Tod und Lebenslust, oft auf der Kippe zum Kitsch, aber immer gerade noch rechtzeitig die Kurve kriegend zu schwereloser Komik und hinreißend leicht tänzelnder Melancholie.

Mit „Vorwärts, los!“ kann man den Titel des Abends übersetzen, was als Startsignal für die oft marschierenden Blaskapellen gelesen werden kann, aber auch als ermutigendes Motto, immer weiterzumachen; „immer weiterspielen“, brüllt Op­brouck auch einmal verzweifelt, denn Trost – und darum geht es eigentlich – kommt nur aus der Musik. Und aus der verschworenen Gemeinschaft der Musiker, denen Musik eben nicht Profes­sion, sondern lebensbegleitendes soziales Schmiermittel ist.

So fährt es unmittelbar unter die Haut, wenn die Bläser im großen Kollektiv Steven Prengels’ Arrangement von Edward Elgars „Nimrod“ anstimmen oder Gustav Holsts „Jupiter“-Hymne aus „Die Planeten“. Aber auch die Profimusiker lassen von Verdis „Trovatore“ über Beethovens „Fidelio“ bis hin zu Schuberts „Leiermann“ aus der Winterreise kaum etwas aus, was (selbst auf das pure Material musikalisch heruntergehungert) auf elementare Weise Pathos entwickelt und Gänsehaut verursacht. Aus Verdi wird ein empört ge­schriener Sprechgesang, Schuberts „Leiermann“ nur auf dem Hornmundstück geblasen. Melodien werden mit Wasser gegurgelt und Klappstühle werden zu Perkussionsinstrumenten. Schauspieler, Tänzer und Musiker finden sich immer wieder zu spontan wirkenden, grazil unbeholfenen Pas de deux.

Das alles ist manchmal rau und sperrig, aber meist von überwältigender Zärtlichkeit und berührender Kraft. Als Choreografie ist das Ganze kaum noch zu bezeichnen. Wohl aber als großes, alle Genres umarmendes Musiktheater, vergleichbar allenfalls mit den großen Arbeiten von Pina Bausch.

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