4. Klasse entscheidet

VON CHRISTIAN FÜLLER

Als Wilfried Bos gestern in der Universität Dortmund vor die Presse trat, traute er seinen Augen nicht. Dutzende Journalisten hatten sich in das Institut für Schulentwicklungsforschung begeben, um sich an einem neuerlichen Schulschock zu delektieren.

Dabei hatte Bos nur wenig Neues zu berichten – und beinahe nur Gutes. Was den Ausgleich der Leistungen zwischen Jungs und Mädchen betrifft, schneiden die deutschen Schulen im internationalen Vergleich ausgezeichnet ab. Die Lesewerte zwischen weltweit lesefaulen Jungs und gernlesenden Mädchen unterscheiden sich hierzulande in den Grundschulen nur sehr geringfügig. Ganze 5 Pünktchen sind es in Baden-Württemberg, selbst Pisacracks wie Kanada, Schweden oder Hongkong kommen auf 17 bis 22 Zähler. Das ist das Ergebnis einer vertieften Auswertung der Daten der Grundschulleseuntersuchung (Iglu). Die Erhebung stammt aus dem Jahr 2003.

Was die Menschen elektrisiert, ist die ungeheure Diskrepanz zwischen den jüngsten Negativwerten aus Pisa vergangene Woche – und Erfolgen, die 10-jährige SchülerInnen bei Iglu erringen. Mit Baden-Württemberg steht weltweit das eigentliche deutsche Bildungsmusterland mit oben auf dem Treppchen – weil es gute Leistungen erzeugt und gleichzeitig viele Schüler zum Abitur bringt.

Was aber passiert eigentlich in den fünf Jahren, die zwischen den Iglu- und den Pisatests liegen, mit den Schülern? Die Zahlen im Vergleich sind einigermaßen deprimierend – gerade bei den so genannten Risikoschülern, jenen Kindern also, die Texte derart schlecht verstehen, dass ihre weitere Lernkarriere absehbar riskant wird: In Bayern sind es 8 Prozent Schüler, die mit 10 Jahren sehr schlecht lesen – unter den 15-jährigen steigt ihre Zahl auf 14 Prozent, in Hessen explodiert der Wert von 8,7 auf 24,3 Prozent (siehe taz-Grafik).

Begabungstheoretiker verweisen gerne darauf, dass man mit 10 Jahren sicher vorhersagen könne, wohin der Weg eines Kindes geht. Lernforscher halten das für ausgemachten Unsinn. Auch Wilfried Bos hat mit Iglu herausgefunden, dass die Hälfte der Schulempfehlungen ihrer 10-jährigen Probanden in Widerspruch zu deren Leistung steht. Aber die deutsche Schülersortierung in drei (und mehr) Schulformen macht in den Klassen fünf, sechs und so fort aus der Begabungs-Ideologie ein empirisches Faktum. „Im Gymnasium erreichen SchülerInnen wesentlich höhere Lernstände, als sie mutmaßlich an anderen Schulformen erreicht hätten“, hieß es vor Jahren in der Hamburger Lernausgangslagenstudie.

Bos’ Grundschuluntersuchung diagnostiziert 44 Prozent der 10-jährigen Schüler auf der zweiten Lesekompetenzstufe. Und findet heraus, dass die LehrerInnen diese breite Mitte quasi willkürlich in die fünften Klassen der verschiedenen Schulformen sortieren. Wer wissen will, nach welchen Kriterien die Bundesländer Auslese vornehmen, sollte eine Fortbildung beantragen, um die 16 verschiedenen Ländermaßstäbe zu studieren. Mal sind es Noten, mal Kernfächer, mal der Eltern- mal der Lehrerwille, oft auch eine Mischung aus alledem.

Nur eins ist sicher in der vierten Klasse: Sie ist die Wegscheide für Lernerfolg und soziale Chancen – selbst in Baden-Württemberg. Dort hat laut Iglu ein 10-jähriger Oberschichtler eine 5-mal so große Chance aufs Gymnasium empfohlen zu werden wie ein Unterschichtkind.

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