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Archiv-Artikel

Eine erzieherische Maßnahme

Trotz aller Proteste will der Senat bei den Hilfen für Erziehung 33 Millionen Euro einsparen. Zwar will er im Notfall den Bezirken unter die Arme greifen. Aber nur, wenn die jeden Cent dreimal umdrehen

VON FRIEDERIKE MEYER

Den heftigen Protesten folgt nun das Zugeständnis. Nachdem der rot-rote Senat die Mittel für die so genannten Hilfen zur Erziehung in den kommenden zwei Jahren ursprünglich um jeweils 33 Millionen Euro kürzen wollte, lenkt er nun ein. Rein formal werden die geplanten Kürzungen zwar beibehalten. Doch wenn die zuständigen Bezirksämter ihren Etat für die gesetzlich garantierten Hilfen überschreiten, kommt der Senat zu 75 Prozent dafür auf. Darauf haben sich SPD und Linkspartei geeinigt. Heute beraten die Fraktionen im Hauptausschuss, der für die Finanzen zuständig ist, über die Vorlage. Spätestens am 23. November soll sie endgültig beschlossen werden.

Mit insgesamt 323 Millionen Euro sind die Hilfen zur Erziehung nach den Ausgaben für Kindertagesstätten der zweitgrößte Batzen im aktuellen Haushalt der Jugendhilfe. Derzeit werden etwa 14.500 Kinder, Jugendliche und Familien unterstützt. Hilfen für Erziehung sind Einzelfallhilfen. Ob eine Person unterstützt wird – darüber entscheidet das zuständige Bezirksamt von Fall zu Fall. Zum Beispiel werden Familienhelfer in betroffene Haushalte geschickt oder Kinder in Heimen, Tagesgruppen oder kurzfristigen Notunterkünften untergebracht.

Seit drei Jahren erhalten die Jugendämter dafür kontinuierlich weniger Geld. Waren es 2002 noch 450 Millionen Euro, soll der Etat bis 2007 auf 290 Millionen Euro sinken. „Viele Jugendämter tendieren dazu, Fälle zu verzögern oder gar bedürftige Kinder und Familien abzuweisen“, sagt Ulrike Urban vom Berliner Rechtshilfefonds. Die Sozialpädagogin hat kürzlich eine 19-jährige Schwangere beraten, die vom Jugendamt abgewiesen worden war. „Das Tragische ist, dass die Ämter finanziell verursachte Entscheidungen oft fachlich begründen.“ Auf Hilfen zur Erziehung besteht nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz ein Rechtsanspruch. „Schon bei falscher Beratung begeht das Jugendamt einen Rechtsbruch“, sagt sie. Das passiere zwangsläufig ständig. Aber niemand spreche offen darüber.

Carl Wechselberg hingegen, haushaltspolitischer Sprecher der Linkspartei, ist kein Fall in Berlin bekannt, bei dem Jugendlichen oder Familien Hilfe zur Erziehung vorenthalten worden sei. „Das Risiko geht keiner ein. Der Jugendstadtrat muss sich an Gesetze halten.“

Jens Stiller, Sprecher der Senatsjugendverwaltung, begrüßt die Einigung der Koalitionsparteien. „Der Rechtsanspruch bleibe damit weiterhin gewährleistet. Außerdem würde die Lösung zu besseren Entscheidungen durch die Ämter beitragen: „Wer genau hinguckt, wird für seine Entscheidung belohnt.“ Denn die Mitarbeiter in den Bezirksämtern sollen an Schulungen teilnehmen, um den kostenbewussten Blick zu stärken.

Scharfe Kritik äußert die jugendpolitische Sprecherin der Grünen, Ramona Pop: „Der Ansatz, die Mitarbeiter in den Ämtern zu qualifizieren, ist richtig. Aber durch Kürzungen ist das nicht umsetzbar. Wenn jetzt schon allen Beteiligten klar ist, dass eine Kostenüberschreitung zwangsläufig kommen wird, muss das benötigte Geld in voller Höhe in den Haushalt eingestellt werden.“

Die Liga der Freien Wohlfahrtsverbände in Berlin hält die Streichungen bei den Hilfen zur Erziehung für „unverantwortlich“, sagt Sprecherin Elfi Witten. Sollte die Planung tatsächlich Ende des Monats beschlossen werden, sind die Mittel für das Berliner Hilfesystem für Kinder, Jugendliche und Familien innerhalb von fünf Jahren um 36 Prozent geschrumpft. Insgesamt würden so 160 Millionen Euro gespart.

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