: Mit geballter Macht
aus Paris RUDOLF BALMER
Die Lage in Frankreich ist nach zweiwöchigen Krawallen so ernst, dass die Regierung gestern bei einer außerordentlichen Ministerratssitzung beschloss, den „Notstand“ zu erklären, wie dies Premierminister Dominique de Villepin am Montagabend am Fernsehen angekündigt hatte. Das entsprechende Gesetz wurde 1955 erlassen und bisher außer während des Algerienkrieges nur noch 1984 in der Überseeprovinz Neu-Kaledonien angewandt.
Den Präfekten in den von Unruhen betroffenen Départements ist es nun überlassen, kraft des Gesetzes die nach ihrer Einschätzung geeigneten Initiativen zu ergreifen, um die Ordnung wiederherzustellen. Sie können in bestimmten Zonen ein nächtliches Ausgehverbot verhängen, den Verkehr von Personen und Fahrzeugen verbieten, unerwünschten Personen das Betreten des Départements untersagen und die vorübergehende Schließung von Schauspielhäusern, Kinos und Bars, Cafés und Restaurants anordnen. Das Gesetz, das zu Beginn des Algerienkriegs als Reaktion auf die subversiven Aktionen der antikolonialistischen Befreiungsbewegung verabschiedet wurde, erlaubt auch polizeiliche Hausdurchsuchungen während der Nacht.
Der Präfekt verkörpert die zentrale Staatsmacht in den Départements, er wird vom Staatspräsidenten ernannt und ist nur der Regierung gegenüber verantwortlich. Die Präfekten sind dem Innenminister unterstellt, er ist ihnen gegenüber weisungsbefugt. Soll man daraus schließen, dass Präsident Jacques Chirac und die Regierung Villepin das Schicksal des Landes in die Hand von Innenminister Nicolas Sarkozy legen? Die per Dekret erlassenen Notstandsmaßnahmen gelten vorerst nur für die maximale Dauer von zwölf Tagen. Falls die Krise sich verschlimmert, müsste das Parlament über diese Vollmachten entscheiden.
Dass die Regierung jetzt zu einer Ausnahmegesetzgebung greift, die für bürgerkriegsähnliche Situationen gedacht war, ist das Eingeständnis, dass der Staat mit seinen normalen Mitteln nicht mehr fähig ist, für die Sicherheit der Bürger zu sorgen. Es könnte nicht der letzte Schritt bleiben. Auf die Frage eines Reporters: „Soll die Armee eingesetzt werden?“, antwortete Villepin: „So weit ist es noch nicht.“
Die jetzt mögliche Verhängung eines Ausgehverbots ist auch ein symbolisch bedeutungsschwerer Schritt. Dass sich die Regierung dabei ausgerechnet auf ein Gesetz stützt, mit dem Frankreichs Staat den algerischen Befreiungskrieg im Keime ersticken wollte, hat eine nicht zu unterschätzende symbolische Bedeutung. Nicht nur bei den Randalierenden, sondern auch bei vielen von den Notstandsmaßnahmen betroffenen Banlieue-Bewohnern handelt es sich um die Kinder der Einwanderergeneration, die in Algerien oder bereits in Frankreich miterlebt hat, wie solche repressive Vollmachten umgesetzt werden können. 1962 wurde während mehrerer Monate die Bewegungsfreiheit ausschließlich der Nordafrikaner eingeschränkt.
Völlig unterzugehen drohen bei dieser Entwicklung die politischen Vorschläge, die Premier Villepin auch machte. Er hat indirekt eingestanden, dass es ein Fehler war, aus Spargründen die Subventionen für die Vereinigungen zu kürzen oder streichen, die in den „heißen“ Banlieue-Quartieren für ein Minimum an sozialer Bindung sorgen, indem sie sich um die Erziehung der Kinder, um die Probleme alleinstehender Mütter oder einfach für das kulturelle und sportliche Freizeitangebot sorgen. Die Renovierung der Sozialbauwohnungen will er, wenn möglich, beschleunigen. Er versprach auch, die Stipendien für Studierende aus den Vorortsiedlungen würden verdreifacht. Da rund 15.000 Schulpflichtige dem Unterricht definitiv den Rücken gekehrt haben, sollen Jugendliche ab 14, das heißt vor dem Ende der obligatorischen Schulzeit (bis 16 Jahre), die Möglichkeit erhalten, eine Berufslehre zu beginnen. Er wolle mit „Härte und Gerechtigkeit“ vorgehen, hat Premier Dominique de Villepin gesagt. Die Schwierigkeit wird darin bestehen, das richtige Gleichgewicht zu finden.