Das Debakel bleibt niemals aus

Bedingungslos modern: Das große Komikerpaar Liesl Karlstadt und Karl Valentin wird als Avantgarde des Medienzeitalters entdeckt

Valentin nimmt es auf den Millimeter genau – nur ohne Sinn fürs Große und Ganze Die Faszination für die Medien des 20. Jahrhunderts hat dieses Paar geteilt

VON EKKEHARD KNÖRER

Unter seinem richtigen Namen Valentin Fey begann Karl Valentin im Jahr 1907 seine Karriere als Künstler mit einem kapitalen Fehlstart. Eigenhändig hatte er ein Instrumenten-Ensemble mit Orchestermuschel gebaut, 27-teilig, das er selbst als one man band bedienen konnte. „Keine Lärmmusik!“, beruhigte die von ihm selbst entworfene Werbeanzeige. „Kein Automat!“ Und vor allem: „Unkopierbar.“ Keiner aber wollte den Musikanten und sein Orchestrion hören, bitterarm kehrte Valentin von seiner Tournee zurück – „unkopierbar“ jedoch war nicht gelogen.

Vieles, das den Komiker später auszeichnen sollte, kommt im Orchestrion schon zusammen. Das Selbstgebastelte zum Beispiel. Karl Valentin hatte eine Schreinerlehre gemacht und blieb ein Tüftler und Bastler, Bricoleur und Erfinder Zeit seines Lebens. So wurde eine von ihm entworfene Rutschbahn mit Sprungfedern 1921 als „Frosch-Hüpfbahn“ zur Oktoberfest-Attraktion, und der eigene Werkstattkeller gehörte immer zu seiner Wohnung. In die Welt der Schreinerei begab sich Valentin auch mit „Der neue Schreibtisch“ von 1913, einer seiner ersten Stummfilmgrotesken, nur dass er hier, was ein anderer geschreinert, mit der Säge wieder zerstört. Der neue Schreibtisch, den der wild schnauzbärtige Valentin geliefert bekommt, ist zu groß, Valentin kürzt die Beine. Aber trotz Einsatz des Zollstocks unregelmäßig, also sägt er und sägt er, bis der Tisch, beinlos fast, auf dem Boden liegt – und er unter ihm.

Der Zollstock gehört zu den am häufigsten verwendeten Utensilien in Valentins Sketchen. Mit ihm werden die unterschiedlichsten Gegenstände vermessen – vom Tisch bis zur Breze –, nur ohne Sinn und Verstand. Die typische Valentin-Figur nimmt es bis auf den Millimeter genau, nur ohne den mindesten Sinn fürs Große und Ganze. Sie ist pedantisch und verbeißt sich verlässlich ins unwichtigste Detail. Valentins komischer Entwurf liegt in dieser immer falsch justierten Präzision, die am Ende stets eine mehr oder weniger katastrophische Inkongruenz erzeugt. Und dieses Unverhältnis zu den Dingen generiert nicht nur Komik, sondern Gewalt, denn in Valentins Welt wird, was nicht passt, mit eigener Hand oder auch sprachlich, passend gemacht, aber stets so, dass es hinterher schon überhaupt nicht mehr zu gebrauchen ist.

Auch der Musik ist Valentin nach dem Desaster mit dem Orchestrion treu geblieben, viele seiner „musikalischen Clownerien“ und späteren Tonfilme mit Liesl Karlstadt geben Zeugnis davon. Karlstadt selbst, die immer sehr viel mehr war als nur die Frau an seiner Seite, hatte ihre Karriere als Soubrette begonnen und spielte wie Valentin selbst allerhand Instrumente. Freilich bleibt auch beim Musizieren das Debakel nie aus. In „Der Zithervirtuose“ von 1934 etwa spielt Valentin die Zither und hört nicht mehr auf, geradezu gewaltsam muss am Schluss des Films das „Ende“ eingeblendet werden, die Musik aber geht, denkt man sich, immer weiter. In „Die Orchesterprobe“ (1933) wird mehr gestritten als geprobt, in „Ein verhängnisvolles Geigensolo“ (1936) bleibt es bei der Ankündigung des großen Geigen-Auftritts des zweiten Paganini mit Namen Wrdlbrmpft.

Als „Filmpionier und Medienhandwerker“ präsentiert eine im Filmmuseum in Frankfurt am Main gezeigte Ausstellung den großen Filmkomiker aus München. Das ist eine durchaus ungewohnte Beleuchtung, da in der Rezeption bisher vor allem die virtuose sprachliche Verzögerungs- und Destruktionskraft des Komikers beachtet wurde. Sieht man aber die Stummfilmgrotesken, ist gar nicht mehr recht zu sagen, ob Valentin nun zuerst ein Sprach- oder ein Körperkomiker war. Natürlich ist er zu Recht für seine gewundenen Sprachimprovisationen berühmt, zugleich aber schien der hagere Mann auch für den visuellen Slapstick geboren, mit seinen viel zu langen Armen und Beinen, aus denen die Filme viel komisches Kapital schlagen.

Valentin war vom Medium Stummfilm begeistert, schon 1913 richtete er sich ein eigenes Filmstudio ein, der Bericht in seiner Autobiografie liest sich freilich wie ein echter Valentin-Sketch: „Die Münchner haben es wahrscheinlich längst vergessen, dass ich in ihren Mauern der erste Filmunternehmer Bayerns war. (…) Ich ließ mir aus Frankfurt die soeben neu erfundenen Jupiter-Scheinwerfer kommen, fünf Stück an der Zahl. Sie kosteten ein paar tausend Mark. (…) All mein sauer erspartes Geld steckte ich hinein, um ein Film-Großindustrieller zu werden. Aber nach sechs Monaten war ich schon rettungslos verkracht.“ Es blieb nicht das letzte Finanzdesaster in Valentins Karriere als Medienavantgardist. In den frühen 30er-Jahren kratzte er erneut sein ganzes Geld – und vor allem das Geld Liesl Karlstadts – zusammen, um ein gesamtkunstwerkhaftes Panoptikum zu errichten, ein multimedial aufgerüstetes Museum seiner irrwitzigsten Einfälle. Allein, das Publikum blieb aus, das Panoptikum musste schließen, und Karlstadt unternahm, aus mehr als einem Grund kräftemäßig am Ende, einen Selbstmordversuch.

Überhaupt wird Karlstadts Rolle bei den Erfolgen des Komikerpaars gerne unterschätzt. Sie war diejenige, die den hypochondrisch-egozentrischen Valentin vor jedem Auftritt stabilisierte. Auf der Bühne erwies sie sich als außerordentlich wandlungsfähige Performerin, an der sich Valentin als der Immergleiche abarbeiten konnte. Und nicht zuletzt war sie, wie man in der sehr materialreichen Ausstellung erfährt, auch diejenige, die Valentin auf die Schallplatte brachte. Die ersten Aufnahmen in dem Medium, dem Valentin und Karlstadt nicht zuletzt ihren großen Nachruhm verdanken, entstanden 1919 auf ihre Veranlassung. Die Faszination für die Medien des 20. Jahrhunderts haben die beiden offenkundig geteilt. Denn obgleich sie sich ausdrücklich und nicht ohne Nostalgie auf die Tradition der bayerischen Volkssänger bezogen, die mit dem Ersten Weltkrieg an ihr Ende gelangte, waren das Radio und das Telefon, die Schallplatte und der Film in ihren Sketchen von Anfang an präsent.

Die Ambivalenz, das auch hier wiederkehrende Inkongruenzverhältnis, machen Valentin und Karlstadt zu scharfen Beobachtern alles Neuen. Mit präzisem Sinn für ihr komisches Potenzial nähern sie sich dieser ganz neuen Welt der Widrigkeiten, von Buchbinder Wanningers Kampf mit dem Telefon bis zu Valentins desaströsem Auftritt als Geräuschemacher im Hörfunkstudio in „Im Senderaum“ (1927, als Film 1938). Aber gerade in dieser Faszination für die Medienambivalenz ist das Valentin-Universum bedingungslos modern. Noch vor den ersten Tonaufnahmen entwarf Valentin groteske Werbedias; 1928 inszenierte er, wieder mit Karlstadt, die Multimedia-Performance „Der Flug zum Mond mit dem Raketenflugzeug“, die den Bühnenauftritt mit Filmprojektionen und Lautsprecherdurchsagen mischt.

Als Glanzstück einer kleinen Filmauswahl zeigt die Ausstellung den Stummfilm „Die Mysterien des Frisiersalons“ von 1922. Nach Drehbucheinfällen von Bertolt Brecht, unter der Regie des später berühmten Theaterregisseurs Erich Engel, tritt Valentin als Verunstalter von Frisuren auf, der einem Kunden aus Versehen den Kopf absäbelt. Zwischendurch wird elektrisiert, gefoltert und an Liesl Karlstadts Gesicht herumgemeißelt. Keiner der Macher hatte Ahnung vom Film, sie drehten mit früher Punk-Attitüde auf dem Dachboden eines Privathauses einfach drauflos. Der Film wurde damals kaum beachtet, aus heutiger Perspektive aber steht Valentin mit dem seltsamen Werk in großer Nähe zum Surrealismus.

Und anders als manch anderem Star der Zeit kam den Sprachkomikern Valentin und Karlstadt der Umbruch zum Tonfilm erst einmal gerade recht. Aus einer großen Tonfilmkarriere wurde aber trotzdem nichts. Denn für den bruchlosen Einsatz in schwankhaften Langfilmen wie dem durchaus erfolgreichen „Kirschen in Nachbars Garten“ (1935) taugte der immer widerspenstige, noch vor der Kamera wild improvisierende Valentin nicht. Und die 1936 entstandene sozialsurrealistische Armuts-Tragikomödie „Die Erbschaft“, Valentins und Karlstadts schwärzester und bester Film, war den Nazis mit seinen „Elendstendenzen“ zu finster und kam nie in die Kinos. Auch die kurzen Filme nach Bühnensketchen, die die beiden zunächst weiter drehten, fanden kein Publikum mehr.

Es war, darf man vermuten, nicht zuletzt ihre Modernität, die Karlstadt und Valentin im Dritten Reich zum Verhängnis wurde. Auch nach dem Krieg wollte man von dem finsteren Komiker Valentin erst einmal nichts wissen. Eine Hörfunksendung wurde sogleich wieder eingestellt, letzte Auftritte mit Liesl Karlstadt blieben 1948 ohne Resonanz. Im selben Jahr starb Valentin verarmt und verbittert. Die Wiederentdeckung des großen Komikerpaars, das in Deutschland seinesgleichen nicht kannte, erfolgte erst in den 60er-Jahren. Die Ausstellung im Frankfurter Filmmuseum und der glänzend kommentierte, reich illustrierte Katalog führen nun das avantgardistische Medienverhältnis von Karlstadt und Valentin eindrucksvoll vor Augen.

Deutsches Filmmuseum in Frankfurt am Main, noch bis zum 28. Oktober. Katalog (Henschel Verlag) 19,90 €