Auf dem Spielfeld der glücklichen Sklaven

Der Blick fällt von hoch oben auf das Treiben der Figuren – aber stabil ist diese Betrachterposition nicht: Lars von Trier setzt mit „Manderlay“ seine Amerika-Trilogie fort. Wieder geht es um Herrschaft und Unterwerfung, um Freiheit und Gefangenschaft – und um das Versprechen des Masochismus

In der Spielanordnung Lars von Triers gibt es feste Rollen, aber der Ausgang ist offen

von GERTRUD KOCH

Mit „Manderlay“ kommt der zweite Teil der Amerika-Trilogie von Lars von Trier in die Kinos, deren letzter Teil in Washington enden soll. Mit dem ersten Teil, „Dogville“, hatte Lars von Trier eine weitere Drehung in seinen stilistischen Auffächerungen vollzogen. Mit dem Dogma-95-Manifest wurde der Stil des cinéma verité so platziert, dass sich einmal mehr die filmästhetischen Fragen nach Illusion und Weltbezug des Films stellten. „Idioten“, Lars von Triers Beitrag zur Dogma-95-Staffel, hatte die transitorischen Qualitäten von „Spiel“-Regeln ausbuchstabiert und zu beunruhigenden Ergebnissen geführt, in denen die generative Kraft von Spielregeln zur Schaffung fiktiver, aber gleichwohl real wirkender Welten filmästhetisch bestätigt wurde. Das Spiel mit den Regeln von Genres und ikonografischen Codes hatte mit „Dancer in the Dark“ den Arbeiterfilm und das Musical in eine hybride Allianz gezwungen, in „Breaking the Waves“ das Melodrama des „Women’s film“ zu seinem eigenen Masochismus zurückgebogen.

Als mit „Dogville“ eine weitere Erzählvariante des Films auf den Plan trat, wurde dies oft mit Brechts Theaterästhetik und dessen Lehrstücken in Beziehung gebracht. Es sieht aber so aus, als habe sich Lars von Trier keineswegs allein am theatralen Modell orientiert, sondern dieses bereits kinematografisch umgeschrieben. Vorläufer epischer Filmerzählung, die mit einem Blick von hoch oben auf das Spielfeld menschlicher Handlung sich senkt, gibt es zahllose, von Dassins „Naked City“ bis zu Laughtons „Night of the Hunter“ reichen die Versuche einer epischen Verortung der Erzählposition durch einen unsichtbar bleibenden Erzähler und einen ersten establishing shot von oben auf die Akteure und ihre Spielwiesen. Lars von Trier selbst hatte bereits in „Europa“ mit einem allmächtigen Erzähler aus dem Off begonnen, dessen Stimme den Zuschauer in Trance versetzt, bis der eigentliche Film beginnt. Insoweit ist der Einstieg in „Dogville“ wenn auch überraschend, so doch nicht ohne filmische Spuren ausgekommen.

In „Dogville“ waren die großen, generischen Themen des Kinos, Gewalt und Sexualität, ebenso strukturierend wie die formalen Techniken, in denen diese Motive zu attraktiven Schaustücken werden. Vor allem die Großaufnahmen von Kidman, die, mitunter unter Gaze fotografiert, wie eine Wiedergängerin von Lilian Gish erscheint, umschmeicheln das Affektbild des Kinos par excellence. Vor diesem Hintergrund wird der Brecht’sche Bezug gebrochen, und das Kino beginnt.

Aber natürlich wird auch schon in „Dogville“ kein einfaches morality tale erzählt und auch kein antiamerikanischer Schauprozess im Stile der späten Lehrstücke Brechts veranstaltet. Denn die zarte Grace, die als Florence Nigthingale wirken wollte, wird zur Sexsklavin der Dorfgemeinschaft degradiert. In „Dogville“ sind die drastisch inszenierten Vergewaltigungen als abstoßende Akte inszeniert, die eine sadistische Spannung auskosten, in der es für die Betrachter nicht leicht ist, eine Position einzunehmen. Ekel und Exhibitionismus, verdrückte sexuelle Neugier und Abscheu werden unauflösbar ineinander geschlungen, wie das nur im Kino möglich ist. Zwar erlaubt die äußere Hülle des Lehrstücks eine Distanznahme, die weder Mitleid noch Empörung hervorrufen soll, doch zugleich setzt der Film mit Motiven der Schaulust und des Horrors und Ekels auf starke Affekte – und damit lässt er eine der für von Trier so typischen Publikumsfallen zuschnappen. Indem der Zuschauer – quasi kognitiv entlastet – sich als Oberschlaumeier vorkommen darf, wird er unversehens in die Falle des Voyeurismus gezogen. Analog dazu lässt sich die interessante moralischen Paradoxie begreifen, in der Grace steckt: Wer sich wie sie zum reinen Mittel der Interessen anderer machen möchte, bleibt in ebendiesen instrumentellen Beziehungen selbst gefangen, die er doch einseitig aufkündigen möchte. Mit dieser Paradoxie stürzt von Trier die Affektmodulationen des großen Kinos.

Die Kant’sche Maxime, dass moralisch nur der handelt, der die als moralisch verstandene Handlung von eigenen Zwecken freihält, also nicht etwa zur Verfolgung der eigenen Interessen, zum Beispiel um als „guter“ Mensch sich wohl zu fühlen, einsetzt, wird in „Dogville“ ebenso bestätigt wie unterminiert. Mit der moralischen Diskreditierung von Grace geht die Evokation dessen einher, was in der älteren psychoanalytischen Theorie einmal „moralischer Masochismus“ genannt wurde, jenes Verhalten also, das aus dem Leiden Genuss zu ziehen vermag. Allerdings hatte diese Affektaufladung des Opfers sowohl in „Breaking the Waves“ als auch in „Dogville“ die sexuelle Komponente noch lüstern in der Schwebe gehalten, die im weiteren Verlauf der éducation sentimentale von Grace in „Manderlay“ schließlich gezeigt und benannt wird.

„Manderlay“ schließt an jenes berühmte Vorwort an, das Jean Paulhan dem erotischen Roman „Die Geschichte der O.“ vorangestellt hat. „Das Glück in der Sklaverei“, von dem das Vorwort handelt, beginnt mit dem Bericht eines Falles von einem Sklavenaufstand in Barbados, in dem die in Freiheit entlassenen Sklaven ihre Rückkehr in den Sklavenstatus forderten. Als dies nicht gewährt wurde, löschten sie die Herrschaft aus und übernahmen selbst die Besitztümer. Das politische Exempel wendet Paulhan in eine moralphilosophische Betrachtung, in der dem Masochismus eine transformatorische Eigenschaft zugeschrieben wird, die nämlich, Schmerz in Lust zu verwandeln. Damit, so fährt er fort, „hätten die Menschen endlich gefunden, was sie so emsig suchten, in der Medizin, in der Moral, in den Philosophien und Religionen: das Mittel, den Schmerz zu vermeiden oder zumindest ihn zu überwinden“.

Der Masochismus ist also eine Philosophie des Glücks – und Lars von Trier folgt dieser Maxime zumindest insoweit, als er Grace ihr sexuelles Glück darin finden lässt, dass sie sich ihrem „Sklaven“ sexuell unterwirft. Und auch sonst wird mit dem Reglement des Masochismus gespielt: Die Sklaven folgen Regeln, die in einem Buch notiert wurden, das die Plantagenbesitzerin unter Verschluss hält und das sich im weiteren Verlauf als Selbstgesetzgebung erweist.

Die Fortsetzungsgeschichte, die in „Manderlay“ erzählt wird, schließt exakt an „Dogville“ an. Grace verlässt die väterliche Karosse, um in Manderlay, einer Baumwollplantage in Alabama, an der die Reise zufällig vorbeigeht, die schwarzen Sklaven zu befreien. Und zwar aus den verschiedenen Kreisen ihrer äußeren und inneren Gefangenschaft. Am Ende wird sie wie in „Dogville“ zur Gefangenen der von ihr Befreiten: Sie wird gewaltsam festgehalten, um die Rolle der Herrin zu übernehmen, wie es das Regelwerk vorsieht. Sie versucht wieder zu ihrem Vater zu entkommen. Die untergründige sexuelle Spannung sowie die paradoxen Szenarien einer gefangenen Befreierin und die Freiheit verwerfender Sklaven geben das Material ab, aus dem Lars von Trier ein spannendes Spiel spinnt, dessen Regeln den Film mit generieren.

Die Regeln legen in einem Rollenverzeichnis die Typologie der Akteure fest, und sie beinhalten darüber hinaus Handlungsaufforderungen, die Todes- und Prügelstrafen ebenso einschließen beziehungsweise nach sich ziehen, wie sie die Gerichtsverhandlung als Procedere einsetzen. Die Neuerfindung der Herrschaft ist reiterativ, das heißt, sie wiederholt sich und bleibt in einem Regelsystem stecken, das die Idee der Freiheit begrenzt, die sie auf ihre Fahnen geschrieben hat. Insofern, könnte man sagen, schließt sich Lars von Trier vom politischen Gehalt einer quasi Sade’schen Lesart des bürgerlichen Liberalismus an, exemplifiziert hier am Beispiel der liberalen Abschaffung der Sklaverei. Explizit antiamerikanisch ist das nicht, es ist das Schema, das seit Sade und Foucault einen Zug an Herrschaft fasst, der keineswegs national begrenzt ist.

Man darf also annehmen, dass es nicht wirklich ein politischer Skandal ist, der an „Manderlay“ die Gemüter erhitzt – es ist vielleicht doch mehr die enorme Suggestivkraft, mit der wir in das Spiel selbst hineingezogen werden, in der Schritt für Schritt die sexuelle Komponente des Masochismus entrollt wird, in der rassistische Phantasmen über die schwarze Sexualität und sexistische Phantasmen über die masochistischen Begabungen der Frauen in die ausführliche Inszenierung eines Sexualakts münden, der die kongeniale Allianz zweier Stereotypen vorführt. Aber man soll sich da nicht aufs Glatteis führen lassen. „Manderlay“ lässt sich nicht festlegen.

Der Film führt noch mehr vor: zum Beispiel die schiefe Bahn der Regelkonformität, die Grace zur Vollstreckerin der von ihr abgelehnten Todestrafe macht. Wie „Die zwölf Geschworenen“ und andere Court-Room-Dramen zieht auch „Manderlay“ seine Stärke aus dem mimetischen Verhältnis, das prozedurale Spielanordnungen gegenüber der Fiktion haben. Es gibt feste Rollen und feste Texte, doch der Ausgang ist nicht zur Gänze vorherbestimmt. In seinen vielfältigen Variationen auf die Codes des Genres und der Großaufnahmen übernimmt Lars von Trier auch hier wieder eine Neuaufladung von unterschiedlichen Konventionen des Melodramas. Und auch hier ist es wieder eine Stimme, die von John Hurt, die uns in die Erzählung zieht mit einer Kraft, der man sich so wenig entziehen kann wie der merkwürdigen Mischung aus Schematismus und psychologischem Mienenspiel, das auf der Leinwand fesselt.

Zwar hat die Besetzung gewechselt, aber mit der eigentümlichen Stärke schwebender Großaufnahmen versetzt uns auch die neue, von Bryce Dallas Howard exzellent gespielte Grace in jene Trance des Imaginären, die zum Film gehört. Filme lassen uns etwas sehen in den Gesichtern und in den Dingen – die Fiktion der Geschichte.

„Manderlay“. Regie: Lars von Trier. Mit Bryce Dallas Howard, Isaach De Bankolé u. a. Dänemark/Schweden/Niederlande 2005, 139 Min.