Debatte: Der lange Abschied von Schröder

Mit der schrittweisen Abkehr von der Agenda 2010 versucht Kurt Beck, die SPD zu retten. Denn die Mitte ist nach links gerückt - und die SPD hat nur eine Zukunft als Scharnier.

Im Treibsand ist es gefährlich, durch unkontrollierte Bewegungen zieht man sich immer tiefer hinein. Nur wenn man die Ruhe behält, versinkt man nicht noch mehr. Die SPD befindet sich im Treibsand. Und sie kommt nicht zur Ruhe.

Mit der Agenda 2010 hat sich die älteste Partei Deutschlands in ein strategisches Dilemma manövriert, das schwieriger kaum sein könnte. Denn mit Schröders "Reformen" hat man sich von vielen Stammwählern und den eigenen Mitgliedern entfremdet. Seitdem befindet sich die SPD im ungebrochenen Niedergang. Die SPD erscheint so abgehängt, weil sie sich nicht mehr um die Abgehängten kümmert.

Nicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte hadern die SPD und ihre Anhänger miteinander. Diesmal jedoch hat sich die politische Konstellation fundamental geändert, denn: Der politische Raum, den die SPD freigemacht hat, ist nicht frei geblieben. Dort befindet sich jetzt eine zweite sozialdemokratische Partei. Geführt wird sie von einem Mann, der das Geschäft der Sozialdemokratie versteht wie kein Zweiter, schließlich war er mal ihr Vorsitzender: Oskar Lafontaine. Die Linkspartei ist nicht nur Fleisch vom Fleische der Sozialdemokratie - sie hat auch noch den Rückenwind des Zeitgeistes, während die SPD im Sturm steht.

Auf der anderen Seite wird die SPD von der CDU und ihrer unendlich pragmatischen Vorsitzenden Angela Merkel bedrängt. Diese hatte ihre Partei 2003 auf deren Leipziger Parteitag zuerst in eine wirtschaftsliberale Richtung radikalisiert. Ungeachtet dessen ließ sie es 2006 in Dresden aber zu, dass Jürgen Rüttgers die CDU wieder auf den Pfad der christlichen Soziallehre zurückführte. Die SPD steht nun vor dem Dilemma, dass die CDU zwar in vielen Fragen - etwa beim Mindestlohn - rechts von der SPD steht. Die Kompetenz in Fragen sozialer Gerechtigkeit wird ihr gleichwohl von der Linkspartei und Teilen der CDU streitig gemacht.

Als in der SPD die Agenda 2010 noch sakrosankt war, konnte sie weder nach rechts, dann hätte sie noch mehr an Zustimmung verloren, noch nach links, denn sie wollte ihre eigene Politik nicht in Frage stellen. Die Modernisierer hatten ihre eigene dialektische Antwort auf dieses Dilemma: Nicht nach links, nicht nach rechts, sondern nach vorne müsse man gehen. Nach dem Motto: Immer in Bewegung bleiben, um bloß nicht umzufallen. So hat die SPD in der großen Koalition gleich noch die Rente mit 67 draufgelegt. Dieses "nach vorne gehen" war genau die Art von Bewegung, die die Partei Willy Brandts weiter im Treibsand versinken ließ.

Dieser Prozess scheint zumindest vorläufig gestoppt von einem Mann aus der Provinz, der in Berlin aufgrund seiner regionalen und volksnahen Verwurzelung gerne verspottet wird. Doch Beck kennt die Befindlichkeit der Bürger - und vor allem seiner Parteigenossen - besser als die Matadore der Modernisierer, Steinbrück und Steinmeier.

Kurt Beck tut das, was ein SPD-Vorsitzender tun muss: Er versucht, die Partei zu retten. Indem er sie von der Nemesis der Agenda 2010 befreit, will er sie wieder als Partei der sozialen Gerechtigkeit präsentieren. Deshalb drängt er gerade die Agenda-Anhänger in der Partei zurück, auch den Entwurf für das neue Parteiprogramm hat er wieder nach links verschoben. Allerdings war das bislang noch halbherzig. Das neue Parteiprogramm ist für eine soziale Erneuerung der SPD nur begrenzt geeignet, denn es trägt immer noch das programmatische Echo der Agenda 2010 in sich: Deren "vorsorgender Sozialstaat" ist stark bei den Starken, die privat vorsorgen können, schwach hingegen bei den Schwachen, die auf staatliche Fürsorge angewiesen sind.

Mit seinen Initiativen für die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I, der vorsichtigen Relativierung der Rente mit 67 und der stärkeren Regulierung von Leiharbeit rückt Beck gerade so weit von der Agenda 2010 ab, dass er sie nicht als Ganzes in Frage stellt. Becks Vorschlag zum Arbeitslosengeld wird auch prompt von drei Vierteln der Bevölkerung begrüßt - auch wenn sie skeptisch bleiben, ob Beck es mit seinem Einsatz für soziale Gerechtigkeit wirklich ernst meint. Zu Recht, denn Becks Vorschläge gehen kaum über das hinaus, was Jürgen Rüttgers schon seit langer Zeit fordert.

Beck hat in seiner Partei starke Gegner für seinen Kurs, insbesondere Vizekanzler Franz Müntefering, der sich irgendwann auf die Agenda 2010 und ihre Logik festgelegt hat und seitdem grimmig daran festhält. Müntefering hat sich persönlich verschrödert: Galt er lange Zeit als der Mann, der den Zusammenhalt, ja die Seele der Partei verkörpert, scheint ihn diese zunehmend weniger zu kümmern. Im Streit mit Beck appelliert er nicht an die Partei, sondern an Angela Merkel, sie solle ein Machtwort sprechen.

Mit der schrittweisen Abkehr von der Agenda 2010 will Kurt Beck die SPD aus dem Treibsand ziehen. Dafür muss er möglicherweise Ballast abwerfen. Dieser Ballast könnte Franz Müntefering sein. Beck läuft aber Gefahr, dass die Kritik an Müntefering auf dem Parteitag in zwei Wochen auf andere prominente Befürworter des wirtschaftsliberalen Reformkurses, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier, ausgedehnt wird. Beide hatte Beck noch vor einigen Wochen selbst als seine Stellvertreter neben Andrea Nahles vorgeschlagen. Jetzt könnte sie die Wucht der Agenda-Abkehr treffen. Der SPD- Vorsitzende hätte dann zwar einen Kurswechsel eingeleitet. Sein anderes Ziel, die Stärkung der Parteiführung, hätte er aber durch sein eigenes Handeln hintertrieben.

Ein weiteres Problem steht Beck noch bevor. Bisher versucht er, Die Linke durch einen Bannstrahl auf Distanz zu halten. Sein liebster Koalitionspartner ist ausgerechnet die FDP. Aber mit der gegenwärtigen FDP wird eher der Tiger zum Vegetarier als das Arbeitslosengeld I verlängert und ein flächendeckender Mindestlohn eingeführt. Die vielversprechendste - und zugleich unangenehmste - Option für Beck ist eine strategische Annäherung an die Linkspartei. Sicher, das ist starker Tobak - allein schon wegen der tiefen Kränkung, die fast die gesamte SPD gegenüber Oskar Lafontaine verspürt. Dennoch gibt es viele sachliche Gründe für diese Option.

Zunächst würde sie die CDU wieder von links unter Druck setzen; schließlich ist auch jeder zweite CDU-Anhänger für einen gesetzlichen Mindestlohn. Zudem würde ein Zugehen auf Die Linke die Mehrheitsmöglichkeiten der SPD erhöhen.

Vor allem: Wenn die SPD sich wieder als soziale Partei präsentiert, kann Die Linke nicht länger nach Belieben das Feld der SPD bestellen. Das wäre nicht einmal zum Schaden der Linken, da sich die SPD damit auch auf sie zubewegen müsste.

Die Mitte in Deutschland ist nach links gerückt, das zeigt jede Umfrage. Die SPD könnte als linke Volkspartei ein Scharnier in der Mitte sein, an der niemand vorbeikommt. Dann wäre die SPD nicht mehr im Treibsand gefangen, sondern wieder das, was sie immer sein wollte: ein treibende Kraft.

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