Der Kampf um den Contergan-Film: "Man hätte es besser wissen müssen"

Der TV-Film "Eine einzige Tablette" erzählt vom Contergan-Skandal. Regisseur Adolf Winkelmann über den Widerstand gegen die Verfilmung des heiklen Themas

Fiktive Geschichte, aber gefährlich nah an der Realität - Szene aus "Eine einzige Tablette". Bild: wdr/ap

taz: Herr Winkelmann, seit Monaten wird über das Tauziehen um Ihren Film berichtet. Durch den Rechtsstreit haben Sie mehr Aufmerksamkeit bekommen als irgendein anderes TV-Event. Sind Sie heimlich froh über die Streitereien ?

Adolf Winkelmann: Ach ja, es wäre zynisch, das zu sagen. Aber natürlich hätte nie einer gedacht, dass über einen Film, den noch niemand gesehen hat, so viel geschrieben wird. Dadurch ist Contergan in der Gesellschaft wieder ein Thema geworden. Trotzdem verstehe ich bis heute nicht, wie Grünenthal reagiert hat. Wenn ich deren PR machen würde, ich hätte sie anders beraten.

Der umstrittene Zweiteiler "Eine einzige Tablette" von Regisseur Adolf Winkelmann erzählt - fiktionalisiert - die Geschichte des Contergan-Skandals. Das Schlafmittel, das in dem Ruf stand, keinerlei Nebenwirkungen zu haben, und deshalb häufig von Schwangeren eingenommen wurde, verschwand 1961 vom Markt, nachdem tausende Mütter missgebildete Babys geboren hatten. Sowohl der Hersteller, der Pharmakonzern Grünenthal, als auch der Opferanwalt Karl-Hermann Schulte-Hillen hatten gegen die Ausstrahlung geklagt. Schulte-Hillen, selbst Vater eines geschädigten Sohnes, hatte damals im Prozess gegen Grünenthal gefochten, sah aber jetzt durch den Film seine Persönlichkeitsrechte verletzt. Die Figur des Anwalts Paul Wegener, dessen Tochter Contergan-geschädigt ist, basiert auf seiner Biografie. Anfang September wies das Bundesverfassungsgericht allerdings zwei Eilanträge zurück, sodass der Film heute und morgen in der ARD gesendet werden darf - obwohl er zu einem späteren Zeitpunkt noch verboten werden könnte. Allerdings hielten einige Szenen aus dem Drehbuch dem zwei Jahre währenden Rechtsstreit nicht stand. Außerdem erklärt im Vor- und Abspann jeweils ein Text, was historisch belegt und was reine Dichtung ist.

Dass Grünenthal nicht begeistert davon sein würde, die Geschichte neu aufzurollen, war ja zu erwarten. Aber der damalige Gegner des Pharmakonzerns, der Opferanwalt Karl-Hermann Schulte-Hillen, dessen Sohn selbst geschädigt ist, hat versucht, die Ausstrahlung zu verhindern.

Ja, das hat uns sehr enttäuscht. Über seine Gründe kann ich nur Mutmaßungen anstellen, aber ich habe ein Bild vor Augen: Landgericht Hamburg, Karl-Hermann Schulte-Hillen, der ehemalige Opferanwalt auf der Seite von Grünenthal, neben ihm Herbert Wartensleben, der damals Justitiar bei Grünenthal war - zwei, die sich mittlerweile als beste Freunde bezeichnen. Nach erbittertem Rechtsstreit verwalteten sie gemeinsam das Geld für die Opfer, heute sind sie Verbündete.

Bei Ihnen hört es sich an, als hätte Schulte-Hillen auf die Seite des Bösen gewechselt. Tatsächlich sah er aber in der ursprünglichen Drehbuchfassung seine Persönlichkeitsrechte verletzt. Wenn etwa, wie es anfangs im Drehbuch stand, der Opferanwalt eine Affäre mit einer Mandantin anfängt - was frei erfunden ist -, können Sie da seinen Ärger nicht nachvollziehen?

Nein, das kann ich nicht. Er hat keinen Grund, sich zu ärgern. Die Figur des Anwalts Paul Wegener ist frei erfunden. Sie unterscheidet sich in so vielen wesentlichen Merkmalen von Schulte-Hillen, dass eine Verwechslung schlichtweg nicht möglich ist. Zudem ist Paul Wegener sowohl im Drehbuch als auch im Film ein unzweifelhaft moralisch integrer, positiver Held, der seine Frau und seine Tochter über alles liebt. Das Gericht hat ja nun auch alle 17 Verbotsanträge des Karl-Hermann Schulte-Hillen zurückgewiesen und von den 15 Grünenthal-Anträgen nur einen halben bestätigt.

Die Darstellung des Detektivs.

Ja, es geht es um die Figur des Detektivs Karges, der versucht, den Anwalt und die Opfer zu diffamieren. Das Gericht hat entschieden, dass wir nicht darstellen dürfen, Derartiges sei mit Wissen und Billigung der Grünenthal Geschäftsleitung geschehen.

Warum haben Sie überhaupt einen Detektiv eingebaut?

Weil es ihn gab.

Aber in anderer Form. Historisch verbürgt ist, dass ein Detektiv im Auftrag Grünenthals missliebige Ärzte ausspionieren sollte. Aber es ist nicht bekannt, dass versucht wurde, die Opfer in der Öffentlichkeit oder vor ihren Familien bloßzustellen.

Deshalb haben wir den Film geändert.

Es gibt noch mehr historische Unwahrheiten. Etwa wenn Sie suggerieren, Grünenthal hätte Jahre gebraucht, Contergan vom Markt zu nehmen, obwohl es nur zwölf Tage dauerte. Warum haben Sie den Fall aufgemotzt. Ist die wahre Geschichte nicht stark genug?

Sie irren. Auch in diesem Punkt hält sich der Film an die historischen Fakten. Tausenden von Contergan-Opfern wären ihre Behinderungen erspart geblieben, wenn die in der Firma Grünenthal Verantwortlichen auf bereits seit 1958 vorliegende und sich häufende Warnhinweise auf schwerste andere Nebenwirkungen des Medikaments angemessen reagiert hätten. Die Anklageschrift des damaligen Contergan-Prozesses listet auf gut 400 Seiten eine nicht enden wollende Abfolge von Meldungen über schwere und schwerste Nervenschädigungen auf. 1958 und 1959 vereinzelt, bald vermehrt und schließlich in den Jahren 1960/61 von Monat zu Monat bis in Tausende von Fällen ansteigend, melden sich Klinikärzte, niedergelassene Ärzte, Apotheker und irgendwann auch Geschädigte bei der Firma Grünenthal mit Hinweisen auf schwerste Nervenschädigungen nach Einnahme von Thalidomid. Diese werden von den behandelnden Ärzten in vielen Fällen als irreversibel beschrieben. Obwohl man es besser hätte wissen können und besser hätte wissen müssen, haben die damals Verantwortlichen keine Anstrengung unterlassen, das Medikament zu "schützen", es aggressiv zu bewerben und wirtschaftlich höchst erfolgreich massenhaft auf dem Markt zu verbreiten. Erst als Ende 1961 der Zusammenhang von Thalidomid mit embryonalen Missbildungen offenkundig wurde und durch einen Zeitungsartikel einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden war, sah sich Grünenthal zur Rücknahme des Medikaments veranlasst. Unser Film stellt Letzteres genauso dar, ist eher zurückhaltend in seiner Interpretation der sonstigen Fakten und schon gar nicht aufgemotzt.

Nicht ganz freiwillig.

Das Oberlandesgericht hat in diesem dreistündigen Film letztendlich einen halben Punkt beanstandet. Wir haben das verstanden, eingesehen und geändert. Und was die historische Korrektheit angeht, sprechen wir doch hier nicht von einem Dokumentarfilm oder einem Sachbuch. Es handelt sich um einen fiktionalen Film. Und es ist weder möglich noch Aufgabe und Anspruch eines solchen Films, 50 Jahre zurückliegende Wirklichkeit 1:1 wiederzugeben. Spielfilme dramatisieren, personalisieren, emotionalisieren. Sie machen den Kern des Problems für den heutigen Zuschauer anschaulich und erfahrbar.

Wenn geschichtliche Korrektheit nur nebensächlich ist, wieso wurde das Drehbuch dann vor Beginn der Dreharbeiten Schulte-Hillen zugeschickt?

Die Produktionsfirma und der WDR dachten, es sei wichtig und hilfreich, mit ihm im Gespräch zu sein.

Kurz darauf ist eine Kopie bei Grünenthal aufgetaucht - obwohl sie nur ein Exemplar verschickt hatten. Glauben Sie, Schulte-Hillen hat das Drehbuch seinem ehemaligen Gegner zugespielt?

Ja.

Der Grünenthal-Chef ist auffallend sympathisch geraten, skrupellos ist nur sein Justitiar. Haben Sie versucht, den Kläger zu besänftigen?

Ich stelle Menschen dar, mit all ihren Widersprüchen, Schwächen und Konflikten. Er ist der Chef, der tausend Angestellte hat und sich um deren Arbeitsplätze Sorgen macht. Das Schreckliche passiert nicht nur, weil Menschen böse sind, sondern auch, weil sie Herausforderungen nicht gerecht werden. Es wäre auch zu einfach, das alles auf den bösen Pharmakonzern zu schieben. Der Gesetzgeber hat versagt, die Justiz hat versagt, unsere ganze naiv fortschrittsgläubige 60er-Jahre-Wirtschaftswunder-Gesellschaft hat versagt. Heute geht es darum, aus der Geschichte zu lernen.

Denken Sie etwa, Contergan könnte wieder auf den Markt kommen?

Thalidomid, der Wirkstoff von Contergan, ist heute wieder in mehreren Ländern auf dem Markt und wird voraussichtlich 2008 in der EU neu zugelassen, speziell für die Behandlung bestimmter Krebsformen. Das Mittel ist so gefährlich wie früher und darf nur unter strenger ärztlicher Überwachung eingenommen werden.

Was interessiert Sie an dem Thema?

Ich glaube wir alle müssen uns daran messen lassen, wie wir mit benachteiligten Menschen umgehen. Das Schlimme für mich heute ist, dass ich damals als Kind, sicherlich beeinflusst von der Generation meiner Eltern, das Gefühl hatte, dass die Contergan-Opfer nicht auf die Straße gehören, dass sie ein unschöner Anblick seien, dass man sie in ein Heim stecken sollte. Jahre später habe ich mich dafür geschämt.

Wollen Sie mit dem Film den Umgang mit Behinderten verändern?

Viele Contergan-Geschädigte nennen uns "Langarme". Für sie sind wir die Merkwürdigen. Das ist ein sehr schönes Gedankenmodell, um klarzumachen, dass es darum geht, jeden so zu akzeptieren, wie er ist.

Der Film kann ja nach wie vor verboten werden. Hätten Sie nicht das endgültige Urteil abwarten können?

Dazu sollten Sie die Prozessbeteiligten fragen. Die vielen Contergan-Geschädigten jedenfalls, mit denen ich zu tun hatte, wollen, dass unser Film läuft.

Der Sohn von Schulte-Hillen ist auch Contergan-geschädigt. Er ist gegen die Ausstrahlung.

Er ist mit dieser Ansicht sehr allein. Ich halte es für richtig, dass der Contergan-Skandal wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gehoben wird.

INTERVIEW: SARAH STRICKER

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