Behinderte Kinder und Schulbürokratie: Was heißt hier "geistig behindert"?

Geistig Behinderte gibt es eigentlich gar nicht. Sie werden von der Gesellschaft durch das Attribut "geistig behindert" erst gemacht - und aus ihr hinausgeworfen.

Sonderschule: "Eine Schleuder raus aus der sozialen Gemeinschaft". Bild: ap

"Geistig behindert". Das ist ein Begriff, der vielleicht besser klingt als der früher verwendete Begriff "schwachsinnig". Aber er bleibt zutiefst demütigend. Deshalb ist er als Schimpfwort landauf, landab gebräuchlich. Dabei lässt sich bis heute wissenschaftlich nicht nachweisen, dass die Gehirne von Menschen mit genetischen Syndromen geschädigt und folglich zu Lernprozessen nicht in der Lage seien, sagt die Humangenetikerin Sabine Stengel-Rutkowski. Deren Hirne verfügen über jede Menge Lernpotenzial. Der Hirnforscher Gerald Hüther zeigt sogar, dass das Hirn eines vermeintlich Behinderten zu besseren Leistungen in der Lage ist. Weil es gezwungen ist, etwa das fehlende Sehvermögen durch das Aktivieren anderer Hirnregionen zu ersetzen.

Der Lernpotenzial eines Hirns wird durch äußere Faktoren günstig oder ungünstig beeinflusst. Im Falle der Sonderschule leider extrem ungünstig und aus Sicht der Hirnforschung in einer für das Lernen so wichtigen Phase. Das ist durch Studien belegt.

Wissenschaftlich trifft "geistig behindert" nur dann zu, wenn das Gehirngewebe eines Menschen nachweislich geschädigt ist. Das ist in der Regel nur durch Sauerstoffmangel oder andere biochemische Prozesse im Körper der Fall. Die Schädigung von Gehirnen, dass also Gehirngewebe nicht mehr funktionsfähig ist, passiert in der Regel in unterschiedlichen Arealen. Sie ist also meistens partiell und damit so individuell - wie auch alle anderen Eigenheiten, die Menschen mit sich herumtragen. Es ließe sich eine lange Liste von menschlichen Eigenheiten finden, die durch das Attribut "geistig behindert" viel besser beschrieben wären als Menschen, die genetisch anders strukturiert sind. In unseren europäischen Nachbarländern nennt man sie deshalb auch respektvoll "Menschen mit besonderen Bedürfnissen" oder "mit Assistenzbedarf".

Das Gehirn als zentrales Organ, in dem auch das "Bewusstsein über sich selbst" entsteht, ist untrennbar mit Würde und Persönlichkeit verbunden. Einen Menschen als "gehbehindert" zu bezeichnen, vermag nicht die Person in seiner Ganzheit und Würde in Frage zu stellen. Die Bezeichnung "geistig behindert" ist dazu bestens geeignet. Deshalb sollte man der ebenso freizügigen wie beliebigen, in jedem Falle Würde verletzenden Verwendung des Begriffs ein unübersehbares, lautes und deutliches Ende setzen!

Nichts hat unserem Sohn in seiner bisherigen Entwicklung so sehr geschadet wie die unkritische gesellschaftliche Zuordnung des Attributs "geistig behindert" und dessen bürokratische Umsetzung. Und das nur, weil er ein paar Chromosomen mehr hat, die ihn in jedem Fall zu einem liebenswerten und interessanten Menschen machen. Sein Beitrag in der Gemeinschaft ist nicht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, er ist eher Künstler, Therapeut oder so was.

Der damit verbundene staatliche Zwang, eine Sonderschule zu besuchen, wirkt neben der mangelnden kognitiven Förderung wie eine Schleuder raus aus der sozialen Gemeinschaft hinein in eine getrennte Welt der Menschen mit Behinderungen. Systematische Interaktion zwischen Kindern mit und ohne Behinderungen wird so systematisch unterbunden - die nächste Generation lernt wieder nur aussonderndes Verhalten. Auch dieser Vorgang ist eine Form von Bildung. Aber ist es auch eine wünschenswerte? Was nützen unsere Augen, wenn wir blind an erwiesenermaßen schlechten Schulstrukturen festhalten? Was nützen unsere Ohren, wenn wir die Stimme der Verantwortung nicht hören? Was nützen unsere Beine, wenn wir uns nicht auf den Weg machen? Was nützt uns unser Gehirn, wenn wir es in den Dienst der Unmenschlichkeit stellen? Wir haben das Glück, durch die Bereicherung dieses Menschen stets wachsam und kritisch darauf zu achten, unser nicht (mehr) behindertes lern- und entwicklungsfähiges Denkorgan in den Dienst einer tiefen humanistischen und ethisch lebenswerten Entwicklung zu stellen. Unser Kind Ferdinand ist darin der beste Lehrer.

Die Autorin hat einen elfjährigen Sohn, Ferdinand. Wegen eines Downsyndroms macht er eine Odyssee durch Schulen mit - einen festen Platz in der Regelklasse einer normalen Schule hat er bis heute nicht.

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