Kampfsport: Gesunder Handschlag

Rollstuhlkarate gibt es nur in drei deutschen Städten. In Berlin trainieren Multiple-Sklerose-Erkrankte damit Körper und Geist. Der Sport ist anspruchsvoller als seine Standardvariante: Die Kür ist kompliziert, der Rollstuhl muss perfekt beherrscht werden.

Was die können, können wir auch: Rollstuhlfahrer trainieren ebenfalls Karate. Bild: RTR

"Erst erschrecken, dann muss es krachen." Karatelehrer Michael Thiemer erklärt seinen Schülern genau, wie er sich das vorstellt: Angedeutete Handkantenschläge in den Bauch oder die Kniekehle des stehenden Übungspartners. Auf diese Weise, so Thiemer, werde der Gegner erschreckt und zugleich "weich gemacht". Dann sollen die Rollstuhlkarateka diesen am Ärmel mit einem Ruck zu sich auf die Beine hinunterziehen, um ihm anschließend noch einen imaginären Handkantenschlag in den Nacken zu versetzen. Oder um es mit Michael Thiemer zu sagen, der den ranghöchsten schwarzen Gürtel trägt: Nun muss es krachen.

Die beiden älteren Teilnehmerinnen der vierköpfigen Gruppe, 50 und 58 Jahre alt, lächeln etwas verlegen angesichts der martialisch klingenden Aufforderungen ihres Trainers. Zuvor ging es eher geruhsam zu beim Rollstuhlkarate in Dahlem. Äußerst konzentriert versuchten alle die Anweisungen von Thiemer zu befolgen. An den offenen Türen der Turnhalle der Biesalski-Europaschule tauchten immer wieder unverhohlen staunende Kinder auf. Rollstuhlkarate sieht man nicht alle Tage. In Deutschland wird dieser Sport sonst nur in Leipzig und in Erfurt praktiziert. Und bevor es so weit war, mussten heftige Widerstände überwunden werden, erzählt Thiemer.

Als er die Behindertenverbänden in Berlin vor mehr als drei Jahren auf Rollstuhlkarate ansprach, bekam er Lapidares zur Antwort: "Unser Sportangebot ist groß genug." Thiemer wundert sich noch heute über die bornierte Reaktion: "Die dachten, ich wollte nur an Gelder kommen oder hielten Rollstuhkarate überhaupt für eine bescheuerte Idee."

Die Geschichte wäre wohl im Sand verlaufen, wenn nicht die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft Wind davon bekommen hätte. In ihrem Mitteilungsblatt berichtete sie von Thiemers Offerte. Kurz darauf meldeten sich die ersten Interessenten. Bis heute sind in der Gruppe ausschließlich an der Nervenkrankheit Multiple Sklerose (MS) Leidende aktiv. Keiner muss für den Kurs etwas zahlen - Thiemer möchte schlichtweg nichts dafür. Er war selbst schwer krank und kann inzwischen wieder ein "normales" Leben führen. Nun wolle er "etwas zurückgeben", wie er sagt.

"Links, nach hinten, vorne, oben und Tsuki", ruft Thiemer in der Sporthalle. Oder: "Rechts, nach vorne, um die eigene Achse und dann Tsuki." Tsuki kommt aus dem Japanischen und bedeutet Stoß. Doch bis man diesen setzen kann, ist es ein weiter Weg. Hin und wieder sind die vielen großen Fragezeichen auf den Gesichtern der Teilnehmer nicht zu übersehen.

"Rollstuhlkarate ist viel komplizierter und anspruchsvoller als Karate für Fußgänger", sagt Martina Bercher. Die 42-Jährige macht beides. Mit den Richtungsbefehlen wird beim Rollstuhlkarate nicht nur die Bewegung der Arme vorgegeben, sondern auch die nötigen Lenkmanöver mit dem fahrbaren Untersatz. Dieser soll immer in die exakt richtige Stellung zum Übungspartner gebracht werden. Der Rollstuhl muss dabei mit einer ganz eigenen Technik perfekt beherrscht werden. Die Hand am Rad ist immer flach ausgestreckt, damit die Rollifahrer auch die karatetypischen Bewegungsabläufe beibehalten. Die MS-Kranken üben hier sogenannte Kata ein. Das ist eine Art Kür, bei der acht bis neun imaginäre Gegner hintereinander überwältigt werden. Allein die Erste von insgesamt 30 Kata besteht aus 50 genau vorgeschriebenen Einzelbewegungen. Rollstuhlkarate ist somit auch ein Denksport.

Bercher erzählt, die Kata hätten ihr schon sehr geholfen. Vor kurzem habe sich ihr Zustand binnen weniger Tage verschlechtert. Sie hatte einen Schub, wie die Mediziner sagen. Ihr eines Bein war gelähmt. Bercher machte trotzdem weiter regelmäßig ihre Kata. Und ihr Arzt, sagt die 42-Jährige, hätte gestaunt, wie schnell sie wieder die Kontrolle über ihr Bein erlangte. Für sie ist Rollstuhlkarate eine Art Therapie. Bercher schätzt dabei auch die spirituelle Seite von Karate: Meditation ist ein fester Bestandteil des wöchentlichen Trainings.

Ihre Mitstreiter betonen ebenfalls den therapeutischen Effekt. Für sie sei das eigentlich nichts anderes als Gymnastik, sagen sie. Der Aspekt der Selbstverteidigung wäre hingegen kein Anreiz gewesen. Auch der leistungssportliche Gedanke spielt hier keine Rolle. In der Erfurter und Leipziger Gruppe ist das etwas anders. In Erfurt findet nächstes Jahr die erste deutsche Meisterschaft der Rollstuhlkaratesportler statt.

Und nach Leipzig fährt Thiemer alljährlich, wenn dort ein japanischer Karatemeister zu Gast ist und Fortbildungskurse anbietet. Die Japaner haben die Rollstuhlkaratetechniken entwickelt, und Thiemer möchte auf dem neuesten Stand bleiben. Für seine Gruppe muss er die Übungen allerdings oft modifizieren, damit auch jeder mitmachen kann. Krachen muss es nicht wirklich. "Ihr dürft das nicht zu ernst nehmen. Das ist nur ein Spiel", gibt er seinen Schülern mit auf den Weg.

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