Kubaner im Exil: Fidel allein zu Haus

Jedes Jahr verlassen 33.000 junge Kubaner das Land. "Wer gehen will, soll gehen", hat Castro 1980 gesagt. Jetzt bereut er das.

Fidel den Rücken kehren - immer mehr junge Kubaner entscheiden sich für diesen Weg. Bild: dpa

La Lotería, die Lotterie, ist ein geflügeltes Wort in Havanna. Doch geht es hier nicht um Geld, sondern um Land. Wer in la Lotería gewinnt, hat das große Los gezogen: eine unbeschränkte Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung für die USA. Dafür braucht man nicht sechs Richtige, sondern medizinische Atteste und gute Zeugnisse.

"Die amerikanischen Beamten sind streng, wenn es um die Einreisevisa geht", erklärt Sergio Almiñaque. Der 47-jährige Kubaner mit der hohen Stirn und dem buschigen Schnauzer kann sich nur zu gut an das langwierige Procedere erinnern, bis er endlich seine Greencard in den Händen hielt.

In dem kleinen Park nahe der hermetisch abgeriegelten Interessensvertretung der USA sind die Bänke immer besetzt. Hier warten die ausreisewilligen Kubaner und sortieren ihre Papiere. Jedes Jahr ist der Andrang größer als die 20.000 Visa, die die US-amerikanische Interessensvertretung offiziell ausgeben, wie es das seit 1994 geltende Migrationsabkommen zwischen den ungeliebten Nachbarn vorsieht. Deswegen die Lotterie.

Auswanderung ist Teil der kubanischen Geschichte - vor wie auch nach der Revolution. Prominente Emigranten aus Kuba sind der Nationalheld José Martí, der aus dem Exil heraus den Unabhängigkeitskampf gegen die spanische Kolonialmacht plante, genauso wie die erfolgreiche Band Orishas, von denen einer in Madrid, einer in Mailand und einer in Paris wohnt. Die Rapper haben ihrer Erfahrung mit der Auswanderung ein Album gewidmet, das den treffenden Titel "Emigrante" trägt. "Emigrantes" aus Kuba gibt es nicht nur in den USA, sondern auch in Mexiko, Spanien oder Deutschland. Mindestens 1,5 Millionen Kubaner leben nicht in Kuba.

Von Jahr zu Jahr wandern mehr Kubaner illegal aus. 11.487 Kubaner kamen im Fiskaljahr 2007 über das Meer in die USA - doppelt so viele wie im Vorjahr, so die US-Behörden. Doch auch über den kürzeren Weg - über die Straße von Florida - kamen 4.825 Kubaner in die USA. Dort werden sie anders als die Migranten aus Mexiko, Guatemala oder Nicaragua mit Handschlag empfangen, so schreiben es die US-Gesetze vor. Zusammen mit den 15.000 Visa, die bis zum Ende des Fiskaljahrs Ende September 2007 ausgegeben wurden, wanderten also mehr als 31.000 Kubaner in die USA ein. Das sind die höchsten Zahlen seit 1994, als in wenigen Wochen etwa 35.000 Kubaner auf Booten, Flößen und anderen Gefährten die Insel fluchtartig verließen. Angesichts dieser Flüchtlingskrise stimmten die USA einer geregelten Ausreise zu und gewährten die Regelung über 20.000 Visa.

Vor drei Jahren hat Sergio Almiñaque Glück gehabt und eines der begehrten Tickets erhalten. Der gelernte Meteorologe ist nach Miami gegangen. Nun ist er zum ersten Mal wieder in Kuba. Almiñaque ist froh, den Alltagstrott im Dienste der Revolution hinter sich zu haben, obwohl er in den USA gleich in zwei Jobs rackert. "In Miami gestalte ich meine Zukunft selbst. Hier ist das deutlich schwerer", erklärt er. Dabei hat Almiñaque in Havanna als Zimmervermieter entschieden besser als viele seiner Landsleute gelebt.

Doch die ewige latente Unsicherheit hat ihm zu schaffen gemacht. Die ist neben den fehlenden Perspektiven der zentrale Grund, weshalb von Jahr zu Jahr mehr Kubaner der Insel legal oder illegal den Rücken kehren, schreibt Oscar Espinosa Chepe. Der unabhängige Ökonom und Sozialwissenschaftler weiß genauso wie die Kollegen aus dem staatlichen Forschungsbetrieb, dass die Auswanderungszahlen von Jahr zu Jahr steigen.

"Zwischen 1999 und 2006 haben mehr als 250.000 Kubaner die Insel verlassen. Kuba verliert im Schnitt jährlich über 33.000 Bürger", erklärt Omar Everleny Pérez vom Forschungsinstitut der kubanischen Wirtschaft. Ein Aderlass, den sich die Insel nicht leisten kann, denn es sind anders als in den Flüchtlingswellen der Achtziger- und Neunzigerjahre zumeist die jungen gut ausgebildeten Kubaner, die gehen: Ingenieure, Mediziner, Biologen, Mikrobiologen und andere hochqualifizierte Wissenschaftler.

Enrique ist ein besonders zielstrebiges Beispiel. Der Jurastudent arbeitet neben dem Studium in einem Paladar, so heißen die privaten Restaurants in Kuba, und kommt mit den 150 US-Dollar, die er da verdient, gut über die Runden. Doch anders als viele Altersgenossen, die sich über den lukrativen Job freuen würden, ist der Kellnerjob für ihn nur Mittel zum Zweck. "Mit dem Geld kann ich mein Studium absolvieren und den Englischlehrer bezahlen. Gutes Englisch und eine gute Ausbildung sind meine Eintrittskarten für Miami", sagt der schlanke 25-jährige Mulatte. Dafür schuftet er vierzehn Stunden und mehr am Tag. Die Zukunft, die Kuba ihm bieten kann, reicht ihm nicht. Sein Lohn im Paladar übersteigt heute schon den offiziellen Durchschnittslohn um ein Vielfaches.

Leuten wie Enrique kann der kubanische Staat kaum etwas bieten, denn gut bezahlte Jobs sind rar in Kuba, und die junge Generation will nicht nur zeigen, dass sie etwas kann, sondern auch vom eigenen Können profitieren. Das schlägt sich auch in den Auswanderungszahlen nieder: "Der Altersdurchschnitt der Emigranten liegt unter 29 Jahren", zitiert Omar Everleny aus der Statistik.

Unter denen, die Kuba verlassen, sind auch viele junge Frauen. Somit hat die Auswanderung auch zu einer sinkenden Geburtenrate geführt. Die hat mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das auch auf höchster politischer Ebene registriert wird. Anders sind Interviews mit Demografen wie Juan Carlos Alfonso Fraga vom Forschungsinstitut für Bevölkerung und Entwicklung nicht zu erklären. Der äußerte sich in der Bohemia, dem einzigen Magazin der Insel, und wies - wenn auch äußerst vorsichtig - nicht nur auf die schwierigen Lebensbedingungen als eine der Ursachen hin, sondern auch auf die Risiken einer alternden Gesellschaft, die man am Beispiel Europas studieren könne. Ein zaghafter Verweis auf die Pensionskassen, die mit faktisch sinkender Bevölkerung immer schwieriger zu füllen sind, erklärt Oscar Espinosa Chepe. Der kritische Sozialwissenschaftler, der in Kuba zur Opposition zählt, hat in mehreren Artikeln auf die "demografische Krise" hingewiesen, die nunmehr nicht nur fühlbar, sondern auch fassbar ist.

Um 3.715 Menschen nahm die Bevölkerung der Insel laut den offiziellen Statistiken 2006 ab, und auch für 2007 sind keine positive Zahlen zu erwarten, denn die Geburtenquote in Kuba pro Frau liegt bei gerade 0,75 Geburten. Eine Quote, die vergleichbar mit jener in Spanien und Deutschland ist und der eine hohe Lebenserwartung sowie leere Kassen gegenüberstehen. So beläuft sich die durchschnittliche Rente eines kubanischen Pensionärs laut Berechnungen Espinosa Chepes auf läppische 164 kubanische Pesos, umgerechnet 7 US-Dollar. Ein Grund, weshalb viele Rentner in Kuba an Straßenecken sitzen und Zigaretten, Kaffee oder die Parteizeitung verkaufen, um sich etwas dazuzuverdienen.

Ein würdevolles Leben sieht anders aus, so Espinosa. Der hat gerade selbst das Rentenalter erreicht und macht die extrem bescheidenen Lebensbedingungen auf der Insel für die bewusste Entscheidung vieler Frauen gegen Kinder verantwortlich. Zwar haben sich die Lebensbedingungen in den letzten Jahren etwas verbessert, aber in welche Richtung die Insel künftig steuern wird, ist vollkommen unklar.

Unsicherheit und die fehlenden Signale von oben schlagen sich sowohl in der Geburtenquote als auch der Auswanderung nieder. Die ist längst zum lukrativen Geschäft geworden. Immer öfter sind es Schnellboote, die wartende Kubaner in kleine Buchten oder unbewachten Sandstränden abholen, während es früher oft selbst gebaute schwimmende Gefährte waren, mit denen die Insel verlassen wurde.

Zwischen 3.000 und 12.000 US-Dollar kostet der Trip über die Straße von Florida nach Miami oder der etwas sicherere Umweg über Mexiko. Oft sind es Verwandte oder Freunde, die dafür aufkommen, und immer wieder kommt es zu Unfällen und Vermissten. So werden seit Ende November zwanzig Kubaner - darunter zwölf Kinder - vermisst, die ein Boot bestiegen und nie in den USA ankamen. Kurz vor Weihnachten lief ein Schnellboot aus Miami nach einer Verfolgungsjagd mit der kubanischen Küstenwache auf ein Riff und kenterte, wobei vermutlich 25 Kubaner ertranken, so meldete der Miami Herald.

Die Regierung in Havanna macht für die Tragödie die US-Regierung verantwortlich. Grund für den Menschenschmuggel sei die Regelung, dass jeder Kubaner, "der trockenen Fußes die USA betritt", auch aufgenommen werde. Diese Gesetzgebung macht die Flucht mit Ziel USA ausgesprochen attraktiv, denn in Europa oder anderen Staaten Lateinamerikas gibt es kein automatisches Bleiberecht für Kubaner. Gleichwohl ist auch die Emigration nach Europa eine Ausreiseoption, wie die hohe Zahl von Visa-Anträgen in den Botschaften zeigt.

Lange ist das in Kuba schulterzuckend zur Kenntnis genommen worden, denn Auswanderung war immer auch ein Ventil für Unzufriedenheit. "Wer gehen will, soll gehen", hat Fidel Castro einst bei der Flüchtlingswelle von Mariel gesagt und über einhunderttausend Kubanern die Ausreise gestattet.

"Heute wird man sich zunehmend bewusst, dass ein Teil der Zukunft des Landes auswandert", sagt Omar Everleny. Das bestätigt selbst Fidel Castro. Im Juli ärgerte er sich in einem Artikel in der Parteizeitung Granma darüber, dass über 5 Prozent der kubanischen Universitätsabsolventen in die USA abgewandert wären. Wie der Exodus gestoppt werden kann, schrieb er allerdings nicht. In seiner Neujahrsrede konzentrierte er sich lieber auf die Vergangenheit und feierte 50 Jahre Widerstand gegen die USA - vorsichtshalber ein Jahr im Voraus.

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