Koalitionspoker nach der Hessen-Wahl: Frau XY will Wort halten

Auf Glaubwürdigkeit legt Andrea Ypsilanti großen Wert. Die Suche nach Koalitionspartnern wird dadurch nicht einfacher.

Ypsilanti zwischen zwei möglichen Koalitionspartnern - der eine willens, der andere ziert sich. Bild: dpa

WIESBADEN taz Am Morgen danach ist Norbert Schmitt in einer misslichen Lage. Er muss einen Gewinn schönreden, der nicht unbedingt einen Sieg bedeutet. Andrea Ypsilanti, der Star des Wahlabends von Wiesbaden, weilt zu diesem Zeitpunkt bereits bei Beratungen mit der SPD-Führung in Berlin. Also fällt Schmitt, dem Generalsekretär der hessischen SPD, die Aufgabe zu, zu erklären, was im Land nun werden soll angesichts einer für die SPD unkomfortablen Situation: Ypsilanti ist zwar die klare Gewinnerin der Wahl, dennoch bleibt die CDU mit einem Vorsprung von 0,1 Prozentpunkten stärkste Partei. Und leitet daraus forsch einen Regierungsanspruch ab.

Um 23.09 Uhr war der letzte Wahlkreis ausgezählt, 39 Frankfurt VI, ausgerechnet Andrea Ypsilantis eigener Wahlkreis. Zwar holte sie das Direktmandat, bei den Zweitstimmen aber blieb die CDU vorn. Mit dieser Auszählung stand fest, dass die CDU die stärkste Kraft werden würde - 3.595 Stimmen betrug am Ende der Unterschied.

Dieser Wahlkreis liegt am nordöstlichen Stadtrand und besteht aus mehreren ehemaligen Dörfern. Auf dem Frankfurter Berg über dem Ortsteil Bonames ragen die Hochhäuser am Ben-Gurion-Ring auf. Taxifahrer nennen diese Gegend "Golanhöhen".

Der Frankfurter Berg gilt als Problemviertel. In den umliegenden Reihenhäuschen hingegen wohnen Angestellte, Beamte und Rentner, die die Tulpen hinterm Jägerzaun in Reih und Glied pflanzen. Zeitweilig war die Gegend eine Hochburg der Rechtsextremen. Ypsilanti wohnt drei Orte weiter im ländlichen Nieder-Erlenbach.

TOLERABEL

Derzeit wird für Hessen die Möglichkeit einer von der Linken tolerierten rot-grünen Minderheitsregierung diskutiert. Schon im Juni 1984 ließ einmal ein SPD-Ministerpräsident seine Regierung tolerieren: Nachdem Holger Börner ein Jahr lang nur eine geschäftsführende Regierung geführt hatte, lieh er sich die Stimmen der Grünen. Die waren 1982 erstmals in den Landtag eingezogen, lehnten es aber ab, mit der SPD zu regieren. Börner hatte im Bezug auf die Startbahn-Proteste getönt, Probleme mit diesen Demonstranten habe man "früher auf dem Bau mit der Dachlatte" gelöst.

1985 schloss die SPD-Hessen schließlich doch eine Koalition mit den Grünen, die erste bundesweit. Joschka Fischer ließ sich in Turnschuhen als Staatsminister für Umwelt und Energie vereidigen.

Schmitt gibt sich Mühe, souverän zu klingen: "Minus zwölf Prozent! Roland Koch ist abgestürzt. Koch hat keine Mehrheit mehr in diesem Land." Das stimmt. Aber hat Ypsilanti die Mehrheit? Oder kann sie sie organisieren, ohne Schaden zu nehmen?

Es ist ja nicht so, dass die 50-jährige Ypsilanti, die es im Wahlkampf verstanden hatte, glaubwürdig zu wirken mit ihren Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit sowie einer neuen politischen Kultur, deswegen auch gleich so manchem potenziellen Koalitionspartner als künftige Regierungschefin vorstellbar wäre. Ihr emotionaler Politikstil, ihr Denken und Argumentieren in Kategorien wie "Gut" und "Böse", ihr häufiges Rekurrieren auf ihre Biographie als Rüsselsheimer Arbeiterkind, ihre ungewöhnliche Karriere als politische Späteinsteigerin - all das ist einem Polit-Bürokraten wie dem hessischen FDP-Vorsitzenden Jörg-Uwe Hahn fremd. Um nicht zu sagen: zuwider.

Doch auf die FDP ist Ypsilanti angewiesen. Sie braucht die Liberalen, um als Ministerpräsidentin einer rot-grün-gelben Ampelkoalition zu werden. Eine Ampel, das sagen viele hessische Sozialdemokraten, wäre die beste Notlösung. "Die FDP muss sich jetzt nach ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung fragen", hat Ypsilanti bereits am Sonntagabend gerufen. Fast wortgleich formuliert es SPD-Vorsitzender Kurt Beck tags darauf in Berlin. Er spricht von der "staatsbürgerlichen Pflicht", dass Parteien Wahlergebnisse nicht zurückweisen, sondern sich ihnen zu stellen hätten. Bei dieser Gelegenheit empfiehlt er Koch den Rückzug und sagt, dass er für eine Koalition mit der CDU derzeit keine Chance sehe, für ein Bündnis mit der Linken sowieso nicht.

Also die FDP. Wie aber soll das funktionieren ohne Wortbruch? Es sind ja nicht nur der Lagerwahlkampf, die Diffamierungen, die es so schwer vorstellbar machen, dass die FDP ernsthaft mit SPD und Grünen verhandeln wollen würde. Es sind auch inhaltliche Differenzen, die eine Ampel fast unmöglich erscheinen lassen: Flughafenausbau, Schulpolitik, Haushalt, Studiengebühren. Man muss nur Stichpunkte nennen, um zu ahnen, dass am Ende entweder die Liberalen oder die Rot-Grünen ihren Wählern als Verräter erscheinen müssten.

Und wenn Ypsilanti ausgewechselt würde? Gegen Jürgen Walter beispielsweise, ihren parteiinternen Widersacher, den smarten Wirtschaftsfachmann aus der Fraktion, der ihr im Kampf um die Spitzenkandidatur unterlegen war? Als Duzfreund einflussreicher CDU- und FDP-Politiker dürfte sein Verhandlungsgeschick möglicherweise aussichtsreicher sein. Ausgeschlossen! Allein die Frage verbietet sich derzeit unter Sozialdemokraten in Hessen. Wer sie trotzdem stellt, wird angegiftet: "Man kann ihr doch nach diesem sensationellen Erfolg unmöglich nahe legen, darauf zu verzichten, Ministerpräsidentin werden zu wollen", empört sich einer ihrer Vertrauten.

Vielleicht hat er Recht. Angesichts ihres überraschenden Erfolgs wird sich kaum jemand trauen, diesen Vorschlag öffentlich zu machen. Nicht einmal ihre parteiinternen Gegner aus Berlin, die Andrea Ypsilanti wegen ihrer dezidiert linken Positionen und ihrer Kritik an der Agendapolitik noch bis vor kurzem in einer Mischung aus Verärgerung und Geringschätzung als "die Frau XY" betitelten. Mittlerweile haben auch sie eingesehen, dass Ypsilanti nicht freiwillig das Feld räumen wird.

Andrea Ypsilanti, die es vom Arbeiterkind zur Diplom-Soziologin zur Referentin in der Staatskanzlei unter dem damaligen Ministerpräsidenten Hans Eichel und schließlich zur SPD-Spitzenkandidatin brachte, ist in ihrem Leben wenig protegiert und oft unterschätzt worden. Was sie erreicht hat, ist in weiten Teilen ihr eigenes Verdienst. Dieses Fehlen von Seilschaften, dieses häufige Zurückgeworfensein auf sich selbst, sind ihre Schwäche und Stärke zugleich.

Ypsilantis Kredit auch bei dieser Wahl war - neben Kochs strategischen Fehlern, die ihr Stimmen einbrachten - vor allem ihre politische Glaubwürdigkeit. Die SPD mochte ihre Positionen zur Sozial- und Arbeitsmarktpolitik mehrfach ändern. Ypsilanti hatte den Vorteil, immer sagen zu können, dass sie ihren Prinzipien stets treu geblieben sei.

Wort halten. Sie weiß, dass sie auf ihrer Suche nach einer Regierungsmehrheit in Hessen vor allem daran gemessen werden wird. Ein Bruch könnte ihr politisches Überleben stärker gefährden als das jedes anderen Kandidaten. Schon deswegen verbietet sich aus Ypsilantis Sicht, ein rot-rot-grünes Bündnis einzugehen, über das gestern auch so viel spekuliert wurde in Wiesbaden. Mit der Linken zu koalieren oder sich auch nur von ihr tolerieren zu lassen, und seien die inhaltlichen Übereinstimmungen noch so groß, wäre in Westdeutschland nicht nur ein Tabubruch, der die SPD zerreißen könnte. Auch für Andrea Ypsilantis politische Zukunft hätte dies unabsehbare Folgen.

"Was vor der Wahl galt, gilt nach der Wahl", hat Ypsilanti denn schon am Wahlabend in Bezug auf die Linken klar gestellt. Ein gemeinsames, wie auch immer geartetes Bündnis, werde es nicht geben. Das klang sehr bestimmt und endgültig. Und so, als würde sie, sollte die FDP tatsächlich bei ihrem Nein bleiben und Koch nach ein paar Wochen mit seinen "Ich-bin-der-Sieger"-Rufen verstummen, notfalls eben mit der CDU Gespräche führen. Unter ihrer Führung, versteht sich.

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