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Archiv-Artikel

Befreiung vom Riesterzwang

ALTERSSICHERUNG Die gesetzliche Rente wurde unter Rot-Grün demontiert. Holger Balodis und Dagmar Hühne zeigen, wer dafür verantwortlich war. Und dass es finanzierbare Alternativen gibt

Ganze 78.000 neue Riesterverträge wurden zwischen Juli und September 2012 abgeschlossen. Was für das Bundesarbeitsministerium ein Erfolg ist, kann der Leser nach Lektüre des Buches „Die Vorsorgelüge. Wie Politik und private Rentenversicherungen uns in die Altersarmut treiben“ allenfalls als Hiobsbotschaft auffassen.

„Sich privat fürs Alter abzusichern ist teuer und endet für die meisten mit erheblichen Verlusten“, so das Fazit der AutorInnen Holger Balodis und Dagmar Hühne, die seit mehr als zwei Jahrzehnten für ARD-Magazine wie „Plusminus“ oder „Ratgeber Recht“ über Altersvorsorge berichten. Ihr Urteil werden viele als pauschal abtun und einwenden, wir alle müssten privat vorsorgen, weil die gesetzliche Rentenversicherung überfordert wird von immer mehr Älteren und sinkenden Geburtenraten. Hier setzten Balodis und Hühne an. Sie zeigen, dass dieses Denken von falschen Annahmen ausgeht und die rot-grüne Bundesregierung ab Anfang 2000 unter den Einflüsterungen von Finanzwirtschaft und Wissenschaft unnötig die Axt an das gesetzliche Rentensystem legte.

Seither sprudeln die Gewinne für die privaten Versicherungen, und das gesetzliche Rentenniveau sinkt stetig. Trotzdem kommt die Öffentlichkeit nicht auf die Idee, den Paradigmenwechsel in Frage zu stellen. Obwohl es für viele bedeutet, unnötig in die Altersarmut gesteuert zu werden. Wie konnte es dazu kommen?

Um es zu verstehen, beschreiben Balodis und Hühne, wie ab dem Jahr 2000 Lobbyverbände (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, Versicherungswirtschaft, Deutsches Institut für Altersvorsorge, Bertelsmann-Stiftung etc.) und neue „Rentenpropheten“ (Bernd Raffelhüschen, Bert Rürup, Meinhard Miegel, Axel Börsch-Supan etc.) begannen, in öffentlichen und nichtöffentlichen Kampagnen die gesetzliche Rente schlecht zu reden. Bei der Regierung Gerhard Schröder (SPD) stießen sie dabei auf offene Ohren.

Den AutorInnen gelingt es, die Geschichte dieser höchst erfolgreichen Lobbyarbeit stellenweise spannend wie ein Krimi zu erzählen. Jahrelange Expertise und ihre Kontakte ermöglichen ihnen detaillierte Beschreibungen aus dem Politikbetrieb und aufschlussreiche Gespräche mit den Verfechtern der Teilprivatisierung sowie mit denjenigen, die sich dagegenstemmten und sich bald alleine auf weiter Flur fanden. Denn wer in den Abgesang auf die Rente nicht einstimmte, wurde kaltgestellt. Der verdiente Sozialpolitiker Rudolf Dreßler (SPD) spricht von einer „regelrechten Säuberungswelle“, die Schröder und Arbeitsminister Walter Riester in Partei und Ministerium lostraten. Abgerundet wird das Buch durch eine – auch für Laien gut lesbare – Analyse der falschen Versprechen der Versicherungen und finanzierbarer Alternativen.

So bleibt einmal mehr unverständlich, warum alle Parteien jenseits der Linken bis heute nicht bereit sind, an dieser Stelle von der Agendapolitik abzurücken. Denn die Rückkehr zu einer lebensstandardsichernden gesetzlichen Rente wäre möglich. EVA VÖLPEL

Holger Balodis/Dagmar Hühne: „Die Vorsorgelüge. Wie Politik und private Rentenversicherungen uns in die Altersarmut treiben“. Econ Verlag, Berlin 2012, 272 Seiten, 18 Euro