Überblick über Metropolenforschung: Stadt satt

Der opulente Sammelband "The Endless City" liefert eine solide internationale Bestandsaufnahme der Gegenwart unserer Städte.

Schanghai: Schnell verliert man seine Hütte, wenn neue Paläste in die Höhe gezogen werden sollen. Bild: dpa

Eigentlich sollte Berlin heute wenigstens sechs Millionen Einwohner haben. Das war die Fantasie nach dem Mauerfall. Doch noch immer zählt man 3,4 Millionen Berliner und Berlinerinnen. Das ökonomische Wachstum der Stadt, auf niedrigem Niveau, verdankt sich unternehmungslustigen, oft jungen Leuten aus Wissenschaft, Kunst, Kultur und der sogenannten Kreativindustrie. Arm, aber sexy, sagt der Regierende Bürgermeister. Ein einziges Kreuzberg, sagen die Experten, die in dem schwergewichtigen Sammelband "The Endless City" zu Wort kommen. Auf rund 500 Seiten werden hier die Forschungsergebnisse von "Urban Age - Das Zeitalter der Städte" vorgestellt, einer von der Londener School of Economics und der Alfred Herrhausen Gesellschaft der Deutschen Bank initiierten Untersuchung.

Auf sechs Konferenzen zur Situation der sechs Metropolen New York, Schanghai, London, Mexiko-Stadt, Johannesburg und Berlin suchten international renommierte Fachleute aus den Bereichen Stadtplanung, Soziologie, Architektur, Ingenieurswissenschaften und Politik die Chancen und Risiken eines andauernden Städtewachstums zu ergründen. Denn Mitte des 21. Jahrhunderts werden 75 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung unterbreiten nun in "The Endless City" mehr als 30 Konferenzteilnehmer Vorschläge für eine zeitgemäße Stadtplanung.

Zunächst gefällt vor allem die grafische und visuelle Gestaltung des Bandes. In der wilden Montage und verblüffenden Konfrontation von Statistiken, Daten und Zahlen wird sofort deutlich, dass fruchtbar über die Stadt nur jenseits der festgefahrenen Pfade nachgedacht werden kann. Sehr viel weniger originell sind dann jedoch die Beiträge von Saskia Sassen, Richard Sennett, Rem Koolhaas oder Jacques Herzog und Pierre de Meuron - um nur die bekanntesten Namen zu nennen. Ziemlich anachronistisch werden etwa kommunale Selbstverwaltung und Rathauspolitik allein unter dem Aspekt stadtspezifischer Probleme betrachtet. Dabei treten die Metropolen schon heute als Verhandlungspartner auf der Ebene der Weltpolitik auf, wie das Beispiel der gegen die Umwelt- und Klimapolitik der Regierung Bush paktierenden großen US-amerikanischen Städte zeigt. Was bedeutet das für die Rolle der Bürgermeister der großen Metropolen? Ist für funktionierende Städte ein Machtzuwachs der kommunalen gegenüber der regionalen und gesamtstaatlichen Politik notwendig? Diese Fragen kommen zu kurz.

Die Stärke der Beiträge liegt eindeutig in den klassischen Bereichen der Urbanitätsforschung wie Arbeit, Wohnen, öffentlicher Verkehr und öffentliche Versorgung (sei es mit Wasser, Bildung, Kultur oder einfach Raum), Standortprobleme als Stadtteilprobleme, etwa im Zusammenhang mit Globalisierung, Immigration und Ghettobildung (bei Reichen wie Armen). Doch auch hier denkt man sofort, dass in den Städten ja nicht nur Menschen, sondern auch Tiere leben. Sie finden in den städtischen Brache inzwischen mehr Überlebensmöglichkeiten als in der sogenannten freien Natur, die in Wirklichkeit Herrschaftsgebiet der Agroindustrie ist. Die Chancen der städtischen Nischen auch einmal an einem solchen Beispiel zu erörtern, hätte "The Endless City" gut getan. Es fehlen die anregenden, weil abseitigen Blickwinkel, ja, es fehlt sogar eine gewissen Geistesgegenwärtigkeit, wie das Beispiel der Klimapolitik der amerikanischen Städte zeigt. Wer allerdings einen soliden Überblick über den Stand der klassischen Stadtentwicklungspolitik sucht, ist mit "The Endless City" gut bedient.

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war Filmredakteurin, Ressortleiterin der Kultur und zuletzt lange Jahre Kunstredakteurin der taz. Seit 2022 als freie Journalistin und Autorin tätig. Themen Kunst, Film, Design, Architektur, Mode, Kulturpolitik.

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