Das Ehemaligentreffen

Schröder, Stoiber und Frau Angela in der Bedürfnisanstalt der Republik

Stoiber dagegen gab immer 20 Cent – mäßig, aber regelmäßig

„So!“, sagte Schröder, als er sich den Hosenladen zuknöpfte, „das hätten wir geschafft.“ – „Übrigens“, sagte Stoiber, „Ihr unterster Knopf hängt nur noch an einem Faden.“ – „Danke“, sagte Schröder, „meinen Sie, es liegt an der jahrelangen Überbeanspruchung?“ – „Es scheint in der Natur der Sache zu liegen“, sagte Stoiber, „irgendwann reißt er. Aber versuchen Sie es doch mal in der Kleiderstelle vom Sozialamt. Vielleicht kriegen Sie dort eine neue.“

Dann ging Schröder. Soweit man Schröders Schlurfen als Gehen bezeichnen will. Stoiber blieb allein in der Besuchertoilette des Reichstags zurück, das seit dem Scheitern der großen Koalition zu einer beliebten Anlaufstelle der „Ehemaligen“ geworden war.

Es war Dienstag, Stoibers liebster Tag. Schröder würde Frau Angela am Tischchen im Vorraum wieder kein Trinkgeld geben, er beachtete sie nicht einmal. Er sah keinen Sinn im Trinkgeldgeben, seit sie ihm die Bezüge gestrichen hatten. Stoiber dagegen gab immer 20 Cent, mäßig, aber regelmäßig. Wenn sie es schaffte, dachte Stoiber, der knallharte Haushaltsdisziplin auch nach seiner Vertreibung aus Bayern praktizierte, wenn sie imstande wäre, seinen bescheidenen Obulus drei Tage lang aufzusparen, könnte sie sich von seinen angesparten Cents ein Erfrischungsgetränk kaufen, ganz von ihm allein. Wenn sie nur wollte. Ein bisschen Verzicht – und dafür dann die schöne Belohnung. Stoiber hatte das genau ausgerechnet. Nach einer Woche bekäme sie im Aldi schon eine Familienflasche, nach 12 Wochen einen ganzen Kasten, und nach 36 Wochen … Stoiber bebte bei dem Gedanken.

Frau Angela lächelte Stoiber jeden Tag von neuem dankbar zu, wenn er sich nach Erledigung seines Geschäfts wieder auf den Weg zur Suppenküche machte und ihr mit der gebotenen Zurückhaltung seinen Beitrag zukommen ließ. Wie immer warf er ihn ins bereitgestellte Bierglas.

Ja, dienstags und donnerstags blieb Stoiber immer länger. Stoiber kam mit Schröder und ging erst nach ihm. Stoiber nahm das erste Waschbecken, Schröder das dritte. Seit sie Stoiber das Wasser gesperrt hatten und die Stütze hinten und vorne nicht reichte, war er sehr gern hier. Stoiber stand am ersten Becken und verrichtete seine Rasur, heute wie jeden Tag. Seinen Rasierpinsel hatte Stoiber gestern liegen lassen, aber Frau Angela hatte ihn aufgehoben. Sie lächelte, als sie ihn Stoiber bei seiner Ankunft zurückgab. Zärtliche Hochachtung vor seiner Person vermutete Stoiber darin. Stoiber sollte über derartige Eitelkeiten hinweg sein, in seinem Alter, aber Frau Angela brachte es immer wieder fertig, ihn zu bezaubern.

Ihre Aufmerksamkeit sachte und behutsam in ihm wohlgefällige Bahnen zu lenken, war der tiefere Grund seines Verweilens hier. Irgendwann, in weiter Ferne vielleicht, würde Angela nicht länger mehr seiner stillen Verführungskunst widerstehen können, dann würde sie alles vergessen haben, was vorher war, all die trostlosen Jahre der Zurückweisung. Dann würde sie ihm in den Schoß fallen wie eine überreife Frucht. Stoiber hatte gelernt zu warten …

Jetzt aber Schluss mit den müßigen Meditationen. Es wurde Zeit, dass Stoiber etwas tat für Angela. Lasst Taten sprechen! An den Spülkasten, in dem sie ihren Nordhäuser Doppelkorn kühlt, kommt sie nicht hinauf, aber Stoiber holte ihr die kühle Flasche jeden Tag herunter. Es war der erste Vertrauensbeweis, dass Stoiber ihn holen durfte, damals, als er kurz nach seiner Ankunft in Berlin von Joschka Fischers Pitbull angefallen worden war und sie die Bisswunde desinfizieren musste. Sie hatte es gut gehütet, ihr Geheimnis. Seitdem durfte Stoiber jeden Tag die Flasche holen. Ohne ihn war sie aufgeschmissen inzwischen, aber Stoiber machte es gern für Angela. Jeden Tag Punkt fünf Uhr nachmittags, selbstverständlich, ganz sachlich, ohne große Kommentare, Stoiber hasste plumpe Vertraulichkeiten. Wenn die Kabine frei war, ging Stoiber hinein und legte das Brettchen, das er sich eigens für diesen Zweck zurechtgesägt hatte, auf die Klobrille, um sie nicht zu beschmutzen und auch für seine eigene Sicherheit. Dann kletterte Stoiber hinauf und holte die Flasche aus dem Spülkasten …

Merkwürdig – statt wie sonst, wenn er mit pedantischer Behaglichkeit seinen Hosenladen zuzuknöpfen beginnt, zu seinem Becken zu gehen, um sich dort zu kämmen, ging Schröder heute gedankenverloren direkt Richtung Ausgang.

Was sich danach im Vorraum abgespielt haben muss, fügte Stoiber mit Hilfe der wenigen flüchtigen Spuren und Hinweise zu einer hypothetischen Rekonstruktion zusammen: Schröder, im Vorraum angekommen, muss noch immer mit dem Knöpfen seines Hosenladens beschäftigt gewesen sein. Der unterste Knopf wird ihm die meisten Schwierigkeiten gemacht haben. Kurzum, Schröder scheint stehen geblieben zu sein, entschlossen, den Widerstand auf diese oder jene Weise vor Erreichen des Ausganges zu brechen. Dabei ging ihm der Knopf vor Frau Angelas argwöhnenden Augen ab, eine offenkundige Ermüdung des Materials, kein Zweifel, Stoiber hatte sie längst vorhergesagt. Und dann passierte das Unerhörte: ein Klimpern … ein kurzer Tumult … Schröder gibt Trinkgeld?! Aus Mitleid, als kleine Entschädigung für den peinlichen Anblick?

Stoiber war alarmiert. Er hastete zur Ecke, um zu spähen. Was er sah, spottete seinen tiefsten Gefühlen zu Angela. In diesem Moment wusste Stoiber, dass er sie liebte, sie und nur sie! Und Stoiber wusste, dass es zu spät war für diese Entdeckung! Denn was musste er sehen? Schröder saß auf Angelas Schoß, und sie nestelte an seinem Hosenladen herum, offenbar in der Absicht, den abgegangenen Knopf wieder anzunähen. Schröder hatte also, verhaltenen Schrittes an Angelas Tischchen angelangt, den Knopf in Angelas Bierglas geworfen, bereit, den Tag ohne ihn zu beenden, man kennt ihn ja als Mann rascher Entschlüsse. Angela wiederum muss, in Schröders Gabe ein Zeichen erblickend, ihm die sofortige Behebung des misslichen Zustands angeboten haben. So saßen sie gemeinsam auf Frau Angelas Schemel und bildeten in grotesker Grazie jenes Foto der Pietà nach, das Stoiber vor Jahren aus der Reisebeilage des Münchner Merkur ausgeschnitten hatte, weil es ihn auf leise Weise anrührte.

Was Stoiber durch treue Dienste zu gewinnen trachtete, nahm Schröder im Handstreich! Stoibers Augen füllten sich mit Tränen der Wut und Verzweiflung. Seine stete Gabe hatte den Stein nicht gehöhlt, im Gegenteil. Stoiber hätte den Rest seiner Tage in der Toilette des Reichstags zubringen mögen, doch diese stille Oase war ihm nun verleidet.

In seinen eitlen Träumen hatte Stoiber gehofft, hier den ruhenden Pol gefunden zu haben, den er aus der Betriebsamkeit des Alltags ansteuern könnte, um ungestört Kraft und Entspannung für einen weiteren Tag zu schöpfen. Dahin, dahin! Stoiber ging, ein gebrochener Mann. Nur das Brettchen nahm er mit. RÜDIGER KIND