RAF-Täter laufen lassen: Freiheit gegen Wahrheit

RAF-Täter sollen die Wahrheit aussagen und dafür straffrei davonkommen - das schlägt ausgerechnet das Patenkind von Bankmanager und RAF-Opfer Herrhausen vor.

Bild: dpa

Die RAF hat sich vor zehn Jahren aufgelöst. Seitdem ist sie aus dem Fokus des medialen Interesses nicht verschwunden, im Gegenteil. Sie hat eine wundersame Karriere gemacht. Die RAF-Ausstellung in Berlin, die Entlassung von Brigitte Mohnhaupt, sogar der Jahrestag des Deutschen Herbstes - stets tauchten wie in einer Zeitreise die alten Fronten wie unverrückt wieder auf. Es wurden wieder Distanzierungen von der RAF gefordert, Täter wie Christian Klar wurden als Monster inszeniert. Doch was aussah wie eine beängstigende politische Retro-Kampagne, war vor allem medialer Hype. Ein Spiel mit Oberflächenreizen, das von einem Tag auf den anderen beendet werden konnte. Denn so heftig die Affekte zu sein schienen, so unklar blieb, was auf dem Spiel stand. Um über die RAF zu reden, brauchte man keine neuen Argumente, noch nicht mal andere Perspektiven. Es ging darum, Siege noch mal zu feiern und alte Feindbilder aufzupolieren. Fast alle RAF-Debatten der letzten Jahre hatten etwas Billiges, Unernstes.

Carolin Emcke war mit Alfred Herrhausen befreundet, der 1989 einem Attentat der RAF zum Opfer fiel. Herrhausen war ihr Pate, die Tat ein Schock. Damals war sie 22 Jahre alt und, wie sie unbescheiden anfügt, "eine linke Intellektuelle". Achtzehn Jahre lang hat sie nichts über Herrhausen geschrieben, obwohl aus ihr eine Journalistin wurde. Warum also jetzt? Eine Antwort findet man in den "hysterischen Skandalisierungen" und den "alten Reflexen" in der Debatte um Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. Emckes Essay "Stumme Gewalt - Nachdenken über die RAF" ist in vielem ein Gegenmittel zu diesen Gespensterdebatten. Es ist ein Versuch, das mediale Geschwätz zu unterbrechen, Erfahrungen nachzuspüren, verharschte Fronten zu durchbrechen und zu fragen, welches Reden über die RAF realistisch ist.

In präzisen Sätzen beschreibt Emcke ihre Erinnerung an das Attentat. Sie erinnert sich an den Blick auf den "gesprengten, verkohlten Mercedes, in dem wenige Stunden zuvor mein Patenonkel gestorben war". Am Nachmittag rief jemand von der RAF bei der Witwe Traudl Herrhausen an und erklärte, dass das Kommando Wolfgang Beer "den mächtigsten Mann Europas" getötet hatte. "Wie sonderbar: nicht nur jemand zu ermorden, sondern auch noch am selben Tag bei der Familie des Opfers anzurufen." Dieser Anruf zeigte für Emcke das Monströse der Tat, in der die Angehörigen für die Täter nur Adressaten der Kommandoerklärung waren, sonst nichts. Leerstellen, keine Subjekte.

Das Gleiche gilt für die Fahrer und Begleitpersonen, die in den Kommandoerklärungen nicht erwähnt wurden. Sie, die sozial Schwächeren, waren in der "Hierarchie der Opfer" (Emcke) nicht wichtig. Diese Kritik an der RAF ist radikal, weil sie genau ist und auf Details schaut. Emcke versucht, sich in die Täter hineinzuversetzen. Sie vollzieht ihren Blick auf das Opfer nach, dessen Alltag sie kennen mussten, um es zu töten. "Ist ihnen nicht aufgefallen, dass man einen Repräsentanten nur in der Theorie tötet, in der Praxis aber ein Individuum? Haben sie darüber nachgedacht?"

Das Credo dieses Textes lautet: Der Telefonanruf, in dem die Kommandoerklärung verlesen wurde, reicht nicht aus. Es muss mehr geben, Motive, Erläuterungen, Rechtfertigungen, die zur Sprache kommen sollen. Die Tat hat eine Verbindung zwischen Tätern und Angehörigen geschaffen, für die das Schweigen der Täter skandalös unangemessen ist.

Die Morde an Karl-Heinz Beckurts, Ernst Zimmermann, Eckhard Groppler, Detlev Karsten Rohwedder, Alfred Herrhausen und Gerold von Braunmühl sind nicht aufgeklärt. Es ist wahrscheinlich, dass die RAF sie begangen hat, sicher ist es nicht.

Der zentrale Vorschlag von Emckes Essays ist: Die Täter sollen öffentlich reden. "Für sich allein. Nicht für die anderen. Als Individuuum." Sie sollen das stählerne RAF-Wir aufsprengen und "ich" sagen. Das kann, wenn überhaupt, nur funktionieren, wenn sie amnestiert werden, gleichgültig, ob sie inhaftiert waren oder sind oder unentdeckt auf freiem Fuß leben. Der Ort wäre eine Art Forum jenseits des Strafrechts, mit Regeln, die noch definiert werden müssen. Verzicht auf Strafe gegen Wahrheit und Aufklärung - diesen Tausch schlägt Emcke vor.

Diese Idee hat etwas Öffnendes, Leuchtendes. Sie reißt, in der erkalteten Konfrontation zwischen RAF-Tätern und Staat, eine Möglichkeit auf. Es ist ein Vorschlag, der, gegen alle Wahrscheinlichkeiten und Gewohnheiten, die Idee setzt, dass, nein, nicht Versöhnung, aber die Anerkennung der Subjektivität des Feindes denkbar ist.

Es gibt viele Gründe, die gegen diese Idee sprechen. Manche haben mit dem Text zu tun, manche mit unserer Situation. Carolin Emckes Autorität als Autorin speist sich aus ihrer doppelten Rolle: als Angehörige eines RAF- Opfers und als kritische Zeitgenossin, die in dem Krieg zwischen Staat und RAF für Abrüstung plädierte. Sie schreibt viel in Ich-Form und ist klug genug, zu reflektieren, dass ihr dieses Ich einen medial verwertbaren Authentizitätskredit verschafft. Doch an diesem Ich führt kein Weg vorbei, weil, so Emcke, "nur ein Ende des Schweigens fordern kann, wer selbst zu sprechen bereit ist". Das leuchtet ein.

Weniger überzeugend ist, dass dieses Ich zu verdrängen scheint, was vorher war. So gibt es für diesen Essay eine Art Passepartout - 1986 schrieben Verwandte von Gerold von Braunmühl einen Brief "an die Mörder unserers Bruders". Es war ein wütender Appell an die Täter, sich zu besinnen, die gleichwohl ernst genommen wurden. Die FAZ diffamierte die Braunmühl-Brüder damals als geistige Komplizen der RAF-Täter. Emcke erwähnt den Braunmühl-Brief nur am Rande. Warum? Hätte es ihren Beitrag kleiner gemacht? Hinter den klug vorgetragenen Zweifeln gibt es in diesem Text eine Selbstsicherheit, die irritiert.

Verstörend wirkt auch die Selbstverständlichkeit, mit der Emcke immer wieder "wir" sagt. Wer ist dieses Wir? Die Öffentlichkeit, die Nation, die Gesellschaft? Die Angehörigen der Opfer? Dieses Wir ist zu groß und zu unscharf. Es passt zu viel hinein.

Vielleicht aber muss so ein Appell etwas zu laut sein, um durchzudringen. Vielleicht ist dieses vage Wir ein wenn auch fragwürdiger Versuch, rhetorisch die Brücke zu skizzieren, die gebaut werden soll.

Und die anderen Einwände? Es gibt viele. Etwa ob der Rechtsstaat auf den Anspruch auf Strafverfolgung verzichten kann. Ob die Täter überhaupt reden wollen. Oder ob es 2008 nicht zu spät ist. Wann aber wäre der richtige Zeitpunkt gewesen? Das sind die Fragen. Sie richten sich an uns, die Öffentlichkeit. Sicher ist: So ernst, so dringlich ist über die RAF lange nicht mehr nachgedacht worden.

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