Neues vom Filmfestival in Cannes: Bewahren, was verschwinden wird

Jia Zhangkes "24 City" und an Raymond Depardons "La vie moderne" zeigen in Cannes, wie gut das Kino sein kann, wenn es von Vergänglichkeit spricht.

Regisseur Raymond Depardon in Cannes. Bild: ap

Das Kino hat eine große Affinität zu Stoffen, die mit dem Verstreichen der Zeit und den damit verbundenen Verlusten zu tun haben. Das liegt an einer ihm eigentümlichen Paradoxie. Zwar kann es lebendig halten, was vergehen wird, denn es filmt einen Menschen mit seinem Herzschlag, in seinen Bewegungen und konserviert ihn noch dann, wenn er schon lange tot ist. Doch zugleich vergeht es, als Zeitkunst, selbst. Bei jeder analogen Projektion spult sich das Filmband ab, bis nichts mehr von ihm übrig ist; jeder Film läuft unausweichlich seinem eigenen Tod entgegen. Wie gut das Kino sein kann, wenn es von Vergänglichkeit spricht, lässt sich in diesem Jahr in Cannes anhand von zwei wunderbaren, wenn auch sehr unterschiedlichen Filmen beobachten: an Jia Zhangkes "24 City" im Wettbewerb und an Raymond Depardons "La vie moderne" in der Nebenreihe "Un certain regard".

Der chinesische Regisseur schaute schon in "Still Life" und "Dong" (beide 2006) dem Vergehen zu, indem er filmte, wie die Stadt Fengjie für den Bau des Drei-Schluchten-Staudamms geräumt wird - inzwischen ist sie geflutet. Für seinen neuen Film ist Zhangke in die Millionenstadt Chengdu gereist; hier erkundet er, was von der staatlich geführten Fabrik 420 übrig ist. Von 1958 bis 2001 wurden dort Flugzugteile für die militärische Nutzung produziert. "24 City" lautet der Name eines ehrgeizigen Bebauungsplans. Wo Fabrik war, sollen Büros, Apartments und Shopping Malls entstehen. Doch noch gibt es die Industrieruinen. Die Kameramänner Yu Likwai und Wang Yu setzen ihnen in hochauflösenden Digitalvideobildern würdige Denkmäler. In Interviewsequenzen spürt Jia Zhangke den Erinnerungen derer nach, die in der Fabrik 420 arbeiteten. Dazu mischt er Szenen, in denen Schauspielerinnen wie Joan Chen erfundene Lebensgeschichten zum Besten geben. Was der Regisseur in "Still Life" und "Dong" noch weitgehend auseinanderhielt, Fiktion und Dokumentation, fließt hier ineinander, um sich wechselseitig zu verstärken.

Auch der französische Regisseur Raymond Depardon inszeniert, wenn auch deutlich verhaltener als Jia Zhangke. Seine Inszenierung beschränkt sich darauf, wie er Figuren im Raum anordnet, wie er Szenen montiert oder eine Autofahrt durch die Hügellandschaft der Cevennen poetisch auflädt. "La vie moderne" ist der dritte Teil eines Langzeitprojekts. Seit Ende der 1990er-Jahre porträtiert Depardon Bauern, die sich der industriellen Landwirtschaft verweigern. Es sind Menschen, die wissen, dass es ihr Metier bald nicht mehr geben wird. Aber sie sind trotzig, stur und ziemlich witzig, selbst dann noch, wenn sie ihre Kühe verkaufen oder schwerhörig werden. Da ist der 88-jährige Marcel Privat, der bald nicht mehr genug Kraft haben wird, seine Schafe morgens auf die Weide und abends zurück in den Stall zu bringen. In langen, stillen Naheinstellungen verweilt die Kamera bei den vielen Falten und den müden, wässrigen Augen des alten Mannes. Man ist dem Film sehr dankbar dafür, dass er Privats Gesicht vor dem Verschwinden bewahrt.

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