Autobiografie von Fall-Sänger Mark E. Smith: Als die Unschuld starb

In seiner Autobiografie gibt sich der Fall-Sänger Mark E. Smith als zynischer Kommentator. Über den Dingen steht er dabei nicht.

Der Mann weiß eine Marktlücke zu erkennen. Nein, ein Tagebuch führe er nicht und auf eine Autobiografie brauche man gar nicht erst zu hoffen, ließ Mark E. Smith noch vor ein paar Jahren in einem Interview verlauten.

Eine lange Durststrecke lag zu diesem Zeitpunkt hinter ihm. Er musste Privatbankrott anmelden und seine auf einem Konzert gebrochene Hüfte schien für mehr Aufmerksamkeit zu sorgen als die Musik seiner Band The Fall, mit der er weiterhin Jahr für Jahr Platte um Platte veröffentlichte.

Die letzte in dieser Reihe erschien diesen April. Und jetzt folgt also doch Smiths Autobiografie. "Renegade. The Lives and Tales of Mark E. Smith" steht in krakeliger Typo auf ihrem Cover geschrieben, und sofort fragt man sich, ob dieser Titel wohl Smiths Copyright trägt. Oder wählte der Verlag bloß einen griffigen Slogan, um den launischen Sänger und seine von den Spuren der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts durchzogenen Texte für die Büchertische attraktiv zu machen? Mark. E. Smith - die Lebensgeschichte eines nicht zu zähmenden Querkopfs?

Geboren wurde Smith in Salford, dem Stadtteil Greater Manchesters, in den die Nachricht von der Neuerfindung der einstigen Baumwollstadt als Arbeitsstätte für Kreativarbeiter bis heute nicht vorgedrungen ist. Smith schätzt das Arbeitermilieu Nordenglands, seine Heimat und ihre mit Linoleumböden ausgelegten Pubs. Hier wurde ihm während seines Bankrotts, zu einem Zeitpunkt, als die großen Indielabels nichts mehr mit Smith zu tun haben wollten, mit Geld ausgeholfen, ohne dass er darum betteln musste. Hinter sich gelassen hat er die Arbeiterklasse ohnehin nie. Auch dann nicht, als seine Musikerkarriere feststand, die den üblichen Konflikt mit den Eltern nach sich zog.

Papa Smith arbeitet hart und ist autoritär, vertritt aber eine klare Meinung. Sohn Mark bewundert diesen Charakterzug, und damit ist das Thema dann auch gegessen. Es bleibt eines der wenigen Details, die man aus dem Privatleben des Mark E. Smith erfährt. Nach der Schule jobbt er zeitweilig als White-Collar-Worker im Hafen von Manchester, bevor nach einem kurzen Collegebesuch Punk in sein Leben tritt. The Fall spielen ihre ersten Auftritte in Arbeiterclubs rund um Manchester und sind dabei weit von der Kunsthochschulmentalität entfernt, die andere Protagonisten des Postpunk auszeichnet: "Ich habe nie verstanden, warum manche Leute in ihrem Leben niemals mehr als die ein, zwei Ideen haben, die sie an der Universität aufschnappen konnten", kommentiert Smith seinen bildungsfernen Hintergrund in einem Tonfall, der fast schon ein wenig klischeehaft nordenglisch wirkt und nur wenig von der Vielstimmigkeit seiner Lyrics erahnen lässt.

Diese kommt nur in kurzen Einsprengseln zum Vorschein, die über das gesamte Buch verstreut sind. Im Fließtext, der Litanei des Mark E. Smith, gibt er dagegen den Künstler, der die Bodenhaftung nie verloren hat, der harte Arbeit ebenso schätzt wie spontane Kreativität und dem assoziierenden Monolog den Vorzug vor nervenzermürbendem Smalltalk gibt. Auch mit Datierungen hält er sich nicht weiter auf, lediglich die LP-Titel von The Fall verleihen seiner Autobiografie eine lose chronologische Ordnung.

Trotz allem ist die Welt in der Version von Mark E. Smith nicht besonders kompliziert. "Die meisten Menschen verkraften es eben nicht, wenn man ihnen die Wahrheit sagt", kanzelt er empörte Reaktionen auf ein veröffentlichtes Interview lakonisch ab. Wie diese Wahrheit aussieht? Die Londoner Musikpresse bestehe aus "Wochenendsozialisten", die Gallagher-Brüder seien untalentiert und John Lennon ein selbstgerechter Messias. Ehemalige Bandmitglieder von The Fall -ihre Zahl ist groß - hätten in der Regel eine falsche Vorstellung vom Alltag mit Mark E. Smith - Verzeihung - mit his Markness gehabt. Anständig bezahlt wurden sie trotzdem.

Ein Mark E. Smith bleibt eben niemandem etwas schuldig. Auch wenn seine Polemik selten ihr Ziel verfehlt - ein Großteil der Ausfälle, Ansichten und Welterklärungen der Person Mark E. Smith erweisen sich mit fortgeschrittener Lesedauer als redundante Wiederholung, bei der schon viel guter Willen nötig ist, um sie als Stilistik zu verstehen. Er nervt immer ein wenig. Nicht nur, weil diese Ansichten bereits in unzähligen Interviews nachzulesen waren, sondern auch, weil MES, wie ihn seine Fans nennen, in seinem Wortschwall gerne einen eher abgehalfterten Humor bemüht. "Ich habe mit dem Trinken aufgehört - vor einer halben Stunde", kommentiert er einen gemeinsamen Fernsehauftritt mit der nordirischen Fußballlegende George Best. Dieser hatte in der Werbepause erst ein Glas Champagner geleert, um dann zur Freude Smiths vor laufender Kamera eine herzergreifende Geschichte über seinen endgültigen Abschied von der Flasche zum Besten zu geben.

Trotz aller erzählerischer Schwächen hat "Renegade" durchaus das Potenzial, die Geschichte einer Generation von Nachkriegsengländern zu erzählen, deren mögliche Fortsetzung gleich zu Beginn der Ära New Labour zu den Akten gelegt wurde. "Mich hat es nicht gestört, Sozialhilfe zu beziehen. Andere Leute gingen zur Universität, ich dagegen las Bücher, rauchte und schaute mich ein wenig um", beschreibt Mark E. Smith seine späte Jugend und die ständige Lektüre von H. P. Lovecrafts fantastischen Storys, nachdem er im Alter von neunzehn Jahren das College geschmissen hatte.

Auch ohne Verklärung der krisengeschüttelten späten Siebzigerjahre und Smiths Abhängigkeit von Alkohol und Amphetaminen wirken seine Erinnerungen an diese Zeit fast ein wenig idyllisch, in erster Linie sind sie aber exemplarisch. Egal, ob es sich um die Art-School-Popper von Pulp oder die Hiphop-Crew Asian Dub Foundation handelt, mehrere Generationen britischer Musiker verdanken ihre Karriere einer Schaffensperiode "on the dole", in der sie ohne äußere Zwänge mit Stilen und Politikformen experimentieren konnten. Damit legten sie nicht nur den Grundstein für das "Cool Britannia", dessen Image Tony Blair und seiner Idee von "New Labour" schließlich die nötigen Vorschusslorbeeren für den Regierungswechsel im Jahr 1997 eintrug. Sondern sie begründeten auch die Erzählposition eines Pop-Auteurs, der mit Parodie, Pastiche und zuweil deutlichen Worten den insularen Alltag kommentieren durfte.

Doch spätestens seit Anfang dieses Jahrtausends ist dieses Modell auf dem Müllhaufen der Popgeschichte gelandet. Blair minimierte die Sozialhilfe. Junge arbeitslose Kreative wurden in Eingliederungkursen zur Selbstvermarktung angeleitet. Es mag Zufall sein, dass sich seitdem kaum noch Erzählungen auf englischen Popalben finden und auch kritische Positionen selten über den Tellerrand von Benefizkonzerten oder der eigenen Prekarität hinausgehen.

Ungelegen kommt es sicher nicht. In diesem Klima wirkt Smith in seinem stoischen Lamentieren über das Verschwinden des Klassenbewusstseins und den Siegeszug von "Friends" und Frappuccino wie aus der Zeit gefallen: "1997 starb die Unschuld. Ich habe mich davon erholt, aber England hat es nicht getan." Dies mag für das Individuum Mark E. Smith gelten, die Subjektposition, die er verkörperte, hat diesen Wandel jedoch nicht verkraftet.

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