Melancholie des Spitzensports: Die Traurigkeit des Leistungssportlers

In den Höhen des Leistungssportlers ist die Luft zu dünn für irgendwen anders. Das macht den Leistungssportler zum Leistungsmelancholiker ersten Ranges.

Der Stabhochspringer- ein fliegender Christus. Bild: dpa

Von allen Tieren ist der Leistungssportler das sportlichste. Menschen braucht er nur, um ihnen zu verkünden, dass er sie nicht braucht. Genauer betrachtet ist aber auch das noch zu viel. Wem sollte der Leistungssportler etwas verkünden können?

Idealerweise sollte dort, wo ein Leistungssportler ist, kein anderer Mensch mehr sein, weil er eben schneller war oder höher oder weiter. Darin bestand sein gesellschaftlicher Auftrag, und er hat ihn ausgeführt ("Auftrag ausgeführt"). Und in den Höhen, in die es der Leistungssportler geschafft hat, ist die Luft zu dünn für irgendwen anders. Das macht den Leistungssportler zum Leistungstraurigker, zum Leistungsmelancholiker ersten Ranges.

Er hat sich mit viel Aufwand mit anderen Menschen versammelt und ist ihnen mit viel Aufwand entrannt, entsprungen, entflogen. Seinem gesellschaftlichen Auftrag folgend hat er einen Abstand aufgebaut. "Möge der Abstand so groß sein, dass das Hauptfeld nie da gewesen sei!" Er hat treulich gehandelt. "Ich vernichte euch mit meinem Abstand!"

Im Innersten seines Bewusstseins hat der Leistungssportler die in seine DNA verwebte unabschaltbare idealtypische Bestimmung, die Existenz der ihn umgebenden Menschen zu negieren. Er geht in die Grundaufstellung "Ich gegen alle". Die Grundstellung der Moderne. Oder einen Ausfallschritt weiter: "Ich gegen alle und alles". Ich gegen alle anderen. Ich gegen die Maschinen. Ich gegen die Zeit. Ich gegen die Schwerkraft. Ich gegen mich.

Der Leistungssportler gleicht damit einem durchs All trudelndem, dem Raumschiff entbundenen Astronauten. Von allen guten Geistern verlassen, seiner Bestimmung nachkommend, einen unberührten Flecken zu berühren im unberührten Universum, in der Terra incognita jenseits des Weltrekords. Er ist damit idealtypisch das einsamste Wesen der Welt. Ein Melancholieschaffender erster Klasse. Und damit ein Prototyp unserer Zeit.

Wir sehen ihn, den Stabhochspringer, wie er mit seinem Stab durchs Stadion rennt, den Katapultpunkt trifft, hochfedert, wie er Stab und Wirbel biegt. Ein fliegender Christus. Oben in den Lüften nimmt er hinweg das Leid der Welt. Und er springt für uns alle. Wir rufen ihm zu: "Mensch - nimms doch nicht so ernst. Komm runter!" Doch es ist ernst. Unten die lustigen Funktionäre. Rundgesichtig und gut beieinander. Sie bleiben in Funktion. Im metaphernhaften Stadion. Der Leistungssportler geht. Womit sich am Ende des ewigen Wettkampftages die Frage stellt, worin das größere Glücksversprechen liegt, im Gewinnen oder in der Niederlage. So viel ist klar: Ebenso glücklich ist es, nie der Sieger gewesen zu sein. Denn der Sieger hat das weite Feld verloren in einer abgegoogelten Welt: den Traum. Den Traum vom Sieg, den Traum vom Glück. Er ist hindurchgegangen durch die Schallmauer des Schmerzes, durch die Schallmauer seines Auftrages, durch die Schallmauer der Sinnlosigkeit. Und sitzt nun auf der anderen Seite seiner Biografie und versucht, die Fasern der Realität mit denen seiner Träume zusammenzuzwirbeln.

Inwieweit ihm die Zwirbelei dann gelingt, steht dahin. Im Moment des größten Erfolges wird er augenblicklich als elender "has been" reinkarniert. Er wird zum Rhapsoden der Leistungsgesellschaft, der das Lied singt von der Vergeblichkeit. Das maximale Anschwellen des Jubelgesangs ist der Beginn des großen Decrescendo.

Somit sind die Bilder vom Sieg, die Jubelfantasien und Erfüllungsriten dieses Augenblicks die traurigsten und verlassensten Momente in der Dramaturgie des Stadions. Wir alle wissen das instinktiv und versinken in Rührung. Dankbar, dass wir hier sitzen dürfen. Jenseits der Scheibe, jenseits der Superlative. In froher Erwartung.

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