Erst die Menschenbildung: Der verklärte Humboldt

Gegen die Bologna-Reform wird gern mit Wilhelm von Humboldt argumentiert. Das ist geschichtsvergessen - und verdreht seinen Bildungsbegriff.

Wilhelm von Humboldt vor den Türen der Humboldt-Universität in Berlin. Bild: dpa

Der sogenannte Bologna-Prozess hat sich das Ziel gesetzt, das Studium an den Hochschulen gründlich zu reformieren. Mit den gestuften Abschlüssen Bachelor und Master sollen europaweit vergleichbare Abschlüsse entstehen. Über ein System von Studienpunkten sollen die Kompetenzen und Lernerfolge der Studierenden in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Diese Ziele sind in Deutschland weitgehend gescheitert.

Die Universitäten werden reformiert, es gibt neue Studiengänge, neue Leitungsstrukturen und frisches Geld. Allerdings funktioniert nicht alles, manche Reform scheint nach hinten loszugehen. Um zu verstehen, was Uni heute ist, muss man streiten - etwa über die Ökonomisierung der Bildung (Martin Kaul, taz vom 19. 12. 2007) oder über Hochschulen und Ungleichheit (Imke Buß, 12. 3. 08, Marius Busemeyer, 28. 5. 08). Heute schreibt Wolf Wagner, der legendäre Autor des 2007 völlig überarbeiteten "Uni-Angst und Uni-Bluff" (Rotbuch). Wagner ist Politik-Professor an der Uni Erfurt. Wer mitdiskutieren will: Manuskripte (max. 6.000 Zeichen) bitte an: uniheute@taz.de

Gerade die Linke zitiert dabei stets mit großem Pathos Wilhelm von Humboldt. Der Bologna-Prozess verrate Humboldts ganzheitlichen Bildungsbegriff - indem er ihn durch bloße Ausbildung ersetze. Bologna untergrabe die von Humboldt begründete Freiheit und Einheit von Forschung und Lehre. Stattdessen komme es zu einer Ökonomisierung der Universität.

Bei genauer Prüfung zeigt sich, dass der Grund für das Scheitern woanders liegt. Die Mehrheit der Professoren unterläuft die Ziele des Bologna-Prozesses, weil sie Bologna ohne Bologna betreibt - und sich dafür auf Wilhelm Humboldt beruft. Das ist nur möglich, weil Humboldt inzwischen zum Mythos geworden ist. Es lohnt sich also, das Original zu prüfen.

Wilhelm von Humboldt gehörte einer klassischen angepassten, reichen Aufsteigerfamilie an. Nach dem frühen Tod des Vaters setzte die Mutter, eine reiche Hugenottin, ihr ganzes Vermögen ein, um den Kindern eine gute Ausbildung zu geben, denn sie sollten in die Spitzen des Staates aufrücken. Wilhelm und Alexander von Humboldt waren umgeben von privaten, überwiegend bürgerlichen Hauslehrern, wissenschaftlich denkenden, kreativen Köpfen. Sie vermittelten den Brüdern den damals sich ausbreitenden Neuhumanismus, die Erfahrung eines geistigen Adels, der dem politischen Adel weit überlegen sei. Als Erwachsene führten sie überwiegend das Leben von Privatgelehrten. Wilhelm von Humboldt etwa hatte nur wenig mehr als ein Jahr lang ein richtiges Amt inne, als er in Preußens Innenministerium 1808 die Leitung der Abteilung "Kultus und öffentlicher Unterricht" übernahm.

Was Humboldt dort einführte, entsprach seiner Lernerfahrung und Lebensführung. Es entstand das heutige dreigliedrige deutsche Bildungssystem, damals schon integraler Bestandteil der preußischen konservativen Revolution von oben, mit der die Elitenherrschaft Preußens nicht nur vor den Anfechtungen der Französischen Revolution gerettet, sondern gefestigt und gestärkt wurde. Noch heute erfüllt dieses System perfekt diese Legitimation einer weitgehenden Elitenselbstreproduktion.

Humboldts Bildungsbegriff ist in der neuhumanistischen Welt verwurzelt. Jeder Mensch sollte entsprechend seinen Anlagen sein volles Potenzial ausschöpfen können. Das war für ihn der Sinn des Lebens. Bildung sollte jedem erlauben, diesen Sinn zu realisieren. Bildung war für ihn Menschenbildung, zweckfreie Selbstverwirklichung. Bildung sollte nicht mit Berufsausbildung vermischt werden, da diese durch fremde Zwecke, nämlich den Anforderungen des Berufs, bestimmt sein musste. Ausbildung zum Beruf war für Humboldt jedoch genauso selbstverständlich. Sie sollte jedoch erst nach erfolgter Menschenbildung einsetzen.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass das einzige Land, in dem Humboldts Vorstellungen verwirklicht worden sind, nicht etwa Preußen oder Deutschland heißt - es sind die USA. Die Universitäten Harvard und Yale holten sich ihr Bildungskonzept direkt von Humboldt. In den meisten Bereichen der US-amerikanischen tertiären Bildung haben sie das Konzept einer vierjährigen, allgemeinen Menschenbildung mit Abschluss Bachelor etabliert. Erst danach folgt im Master oder in sogenannten Schools die voll und ganz an den Erfordernissen der Praxis ausgerichtete Berufsausbildung.

In Deutschland dagegen ist die Menschen- und Berufsausbildung weder institutionell noch zeitlich getrennt, sondern an den Universitäten heillos vermischt. Weder das eine noch das andere kann richtig zur Geltung kommen. Die Lehrenden widmen sich ganz der Forschung im Namen der von Humboldt verkündeten Freiheit und Einheit von Lehre und Forschung. Die Teilnahme daran soll Menschenbildung schaffen. Für die Berufsausbildung sind die Studierenden selbst zuständig. Das Resultat ist eine sozialdarwinistische Autodidaktisierung oder heimliche Privatisierung (etwa durch Repetitorien) des berufsqualifizierenden Studiums.

Zentral für den Humboldtschen Begriff der Menschenbildung ist die Verwirklichung des persönlichen Potenzials und das Lernen des Lernens. Dieser Kompetenzbegriff ist auch im Bologna-Prozesses zentral. Anders als in den USA sieht der europäische Bologna-Prozess keine eigene Phase zweckfreier Menschenbildung vor. Das ist aber der einzige Punkt, in dem der Bologna-Prozess hinter den historischen Humboldt zurückfällt. Denn seine Vorstellung einer Berufsausbildung, die sich an übergreifenden Zusammenhängen orientiert, steckt in den Vorschriften zur Modularisierung genauso wie in den berufsbefähigenden Kompetenzen. Bologna ist also näher dran am historischen Humboldt als die heutige deutsche Universität.

Unter Berufung auf einen mythologischen, ins Gegenteil verkehrten Humboldt betrieben und betreiben die meisten Professorinnen und Professoren heute Bologna ohne Bologna: Anpassung in der Form - um inhaltlich alles beim Alten zu lassen. Sie haben ihre alten Lehrveranstaltungen zu Modulen und ihren Lieblingsstoff zur Kompetenz erklärt. Diese prüfen sie in einer Unzahl von Klausuren ab. Weil sie das aktivierende Lehren, ohne das man Kompetenzen nicht vermitteln kann, nie gelernt haben und auch nicht bereit sind, es zu erlernen, pauken sie weiterhin frontal ihren Stoff durch. So erzeugen sie selbst die Verschulung, die sie wortreich unter Berufung auf Humboldt beklagen. Humboldt wird so zunehmend zur Leerformel - hinter der man immer die Verteidigung ständischer Privilegien vermuten muss. Das war ja auch das Anliegen des historischen Wilhelm von Humboldt.

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