Unterrichtsform: Erste Klassen abgeschafft

In zwei Dritteln aller Grundschulen werden die Schulanfänger in altersgemischten Gruppen lernen. An vielen Schulen wird die neue Form des Unterrichtens allerdings noch abgelehnt

Gemeinsam lernen: Vorschulkinder, Erst- und Zweitklässler arbeiten zusammen Bild: AP

Ein freundlicher, gelb gestrichener Raum. Eine Kuschelecke mit Sofa, sechs vernetzte Computerarbeitsplätze mit Flachbildschirmen. Erste Stunde Mathe. Unaufgefordert und selbständig kommen die Kinder herein und packen Bücher und Hefte aus. Einige beginnen schon zu rechnen. Mit einem Gong auf einer Klangschale markiert Lehrer Ralf König den Stundenbeginn. Es wird schnell leise. "Was haben wir in der ersten Stunde?", fragt der junge Lehrer. Mehrere Hände schnellen in die Höhe: "Mathe", sagt ein Mädchen. Der Lehrer notiert ein "M" an die Tafel. "Was kommt danach?", will er wissen. König muss mit seinen Schülern den Tagesablauf genau planen, denn sie sind unterschiedlich alt.

Die Süd-Grundschule in Zehlendorf praktiziert bereits seit vergangenem Schuljahr, was in Berlin unter Lehrern und Eltern als umstritten gilt: Die sogenannte flexible Schulanfangsphase, kurz Flex. Je neun "Sonnen-", "Mond-" und "Sternenkinder" aus dem ersten, zweiten und dritten Jahrgang bilden bei König eine Klasse. Mit der Einschulung der neuen Erstklässler am Samstag wird Flex an 265 der 379 Berliner Grundschulen angewandt. Längerfristig soll Flex flächendeckend werden - aber funktioniert sie auch?

König arbeitet mit Kindern kaum noch im Frontalunterricht. Deswegen steht sein Lehrertisch auch nicht vorne, sondern in der Mitte der Klasse. Die Schülertische um ihn herum sind zu Sechser-Gruppentischen zusammengestellt. "Eine Struktur ist für die Kinder enorm wichtig beim altersgemischten Lernen", erläutert Alfred Peters, Schulleiter der Süd-Grundschule. Die Stundenabfolge müsse genau besprochen sein, die Aufgabenstellungen klar. Und auch die Ordnung im Regal mit den Arbeitsmaterialien für die Kinder aus drei Altersstufen muss stimmen: Wo sind die Perlen? Wo die Lesebücher für die Drittklässler?

Nicht an allen Berliner Schulen wurde der flexible Schulanfang beklatscht. An vielen Schulen gab es zu wenig Räume, viele Lehrer fühlten sich zu sehr belastet, um bei jahrgangsübergreifendem Unterricht hospitieren zu können. Manche sind auch nicht bereit, ihren Unterricht umzustellen. Der differenzierte Unterricht, der für das altersgemischte Lernen so wichtig ist, gilt als Stiefkind in Berlin. So steht es in dem im Juni veröffentlichten Schulinspektionsbericht, bei dem die Inspektoren zu 70 Prozent Mängel bei der inneren Differenzierung des Unterrichts moniert haben. Zwar bietet die Schulverwaltung ab diesem Schuljahr mehr Fortbildungen für die flexible Schulanfangsphase an. Allerdings: Die Lehrer müssen diese in ihrer Freizeit belegen.

In der König-Klasse ist gerade Wochenplanarbeit in Mathematik. Zusammen mit den Kindern fertigt Lehrer König wöchentlich einen Plan für jeden Schüler, was er in dieser Woche bearbeiten muss. Wann sie was machen, entscheiden die Kinder dann selbst. Ein Mädchen löst gerade Mal-Aufgaben am Computer, zwei ältere Jungen fragen sich gegenseitig ab. König ist von dem System überzeugt: "Schwierige Schüler fallen sonst raus. Jetzt bemerke ich sie stärker und kann mich besser um sie kümmern." Auch besonders begabte Kinder profitierten. "Ich habe jetzt schon drei Schüler, die eigentlich im ersten Schuljahr sind - aber schon die Hälfte des Mathebuchs der Klasse 2 durchgearbeitet haben."

"Wer ist fertig mit seinen Aufgaben?", will der Lehrer wissen. Drei der großen Jungen melden sich. Sie nehmen ihre Stühle und rücken sie auf einen Teppich. Das bedeutet: Sie sind jetzt Helfer. Wenn Kinder bei der folgenden Arbeitsphase Fragen haben, können sie sich an diese Schüler wenden oder an den Lehrer. Der hat nun mehr Zeit, sich um die Schüler zu kümmern, die etwas noch nicht verstanden haben.

Königs Vermutung aus dem ersten Flex-Jahr wird durch die Auswertung des Berliner Schulversuchs "Unterricht in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen" bestätigt. In Flex-Klassen überspringen mehr Kinder einen Jahrgang, heißt es in der wenig beachteten Studie von 2006. Sowohl Kinder mit Hochbegabung als auch solche mit Lernschwierigkeiten hätten in altersgemischten Klassen eine bessere Unterstützung erhalten.

Den Lehrern wird beim jahrgangsübergreifenden Lernen viel abverlangt. Damit die Kinder selbständig arbeiten können, müssen Arbeitsblätter verwendet werden, die sich selbst erklären. "Zu Beginn ist es wirklich sehr viel Arbeit gewesen, die Wochenpläne und die vielen Arbeitsblätter für jedes Lernniveau herzustellen", sagt Dorothea Dornbusch, Deutschlehrerin an der Südgrundschule. "Das ist wie eine zweite Lehrerausbildung. Ich bin jetzt weniger Lehrer als viel mehr Bildungsmanager", sagt König. Er und zwei KollegInnen, mit denen er ein Lehrerteam bildet, sind Vorreiter an der Schule. "Das ist eine große Herausforderung für die Kollegen, die ganze Haltung des Lehrers muss sich verändern", sagt Schulleiter Alfred Peters. Er hat bereits selbst jahrgangsübergreifend gearbeitet. "Kinder brauchen Platz, um sich zu bewegen, und weitere Räume, um auch in kleineren Gruppen an den unterschiedlichen Aufgaben zu arbeiten", sagt er. Wenn das nicht gegeben ist, sei die Umsetzung des jahrgangsübergreifenden Lernens kaum möglich, meint der Rektor. Zwei Drittel der Lehr- und Lernmittel setzt die Schule für die Ausstattung der altersgemischten Klassen ein.

Schwierig ist es in manchen Problemkiezen mit der neuen Lernmethode. In Neukölln stellte vergangenes Schuljahr fast die Hälfte der Schulen auf stur und weigerte sich, das jahrgangsgemischte Lernen einzuführen. "Zu viele schwierige Schüler können auch jahrgangsgemischte Gruppen überfordern", stellt der Bericht zum Berliner Schulversuch fest. Er liefert damit eine Erklärung für die Neuköllner Abwehr. Auch viele Eltern stehen der anderen Art des Lernens skeptisch gegenüber. An der Südgrundschule haben die Eltern aber gute Erfahrungen gemacht. Maria Geers* etwa ist Mutter von Zwillingen. Der eine besucht eine jahrgangsgemischte Klasse, der andere eine "normale" erste Klasse.

Wenn sie beide Unterrichtsformen vergleicht, ist sie vom altergemischten Lernen überzeugt: "Das A und O ist das Sozialverhalten, und das ist in der jahrgangsübergreifenden Klasse wesentlich besser." Die Großen helfen den Kleineren, sich schnell in der Klasse und der Schule zu orientieren. Für die Kleinen sei es außerdem ein "wahnsinniger Anreiz", schnell mit dem Wochenplan fertig zu werden und dann selbst "Helfer" zu sein. Doch auch bezogen auf die Leistung sieht sie Vorteile beim altersgemischten Lernen. "Die Kinder, die weiterkommen wollen, werden nicht gebremst, sie können die Schnelligkeit und das Lernpensum, das sie bearbeiten wollen, selbst bestimmen." Mit dem neuen Schuljahr wird auch der andere Sohn in eine altersgemischte Klasse kommen. Maria Geers ist froh darüber.

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