Der Schlitz

Vor 10 Jahren, am 7. September 1998, schalteten die Studenten Larry Page und Sergey Brin von der Universität Stanford eine neue Suchmaschine frei. Google. Der Name geht auf das Wort Googol zurück. Es bezeichnet die Zahl 10 hoch 100. Der Name sollte für die immense Menge an Wissen stehen, die das Internet beherbergt. Im Jahr 2000 begann der Verkauf von Werbung nach Stichwörtern, die Nutzer bei ihrer Suche eingaben. Damit gelang es Google genau in dem Moment profitabel zu werden, als auf der ganzen Welt die Dotcom-Blase platzte. 2007 verdiente Google unter dem Strich 4,2 Milliarden Dollar. 19.600 Menschen arbeiten für Google. Mehr als 90 Prozent aller deutschen Suchanfragen werden inzwischen über Google ausgeführt.

„Information?“, seufzte ein Romanagent von 1945. „Was stimmt nicht mehr an Drogen und Weibern?“ Kein Wunder, dass die Welt verrücktspielt, seitdem Information zum einzigen realen Tauschmittel geworden ist.

Friedrich Kittler

Vor ein paar Jahren bin ich noch ans Fenster zu dem kleinen Thermometer gegangen, um nach der Außentemperatur zu sehen. Heute gehe ich dazu ins Netz. Ein neues Fenster hat sich geöffnet – eines, das fast leer ist bis auf einen bunten Schriftzug und einen Eingabeschlitz: Google. Von hier aus kann jeder teilnehmen am größten und lautlosesten kollektiven Experiment des 21. Jahrhunderts. Innerhalb eines Jahrzehnts hat sich das Suchen von einem nützlichen, peripheren Dienst zur zentralen Schnittstelle des Internets entwickelt. Aus dem Suchen im Netz ist eine überall verstandene Methode geworden, durch das Informationsuniversum zu navigieren. Wenn man irgendwo auf der Welt jemandem am Bildschirm den Google-Suchschlitz zeigt, weiß er mit hoher Wahrscheinlichkeit, was man damit macht. Es ist die Wünschelrute fürs Netz. Bisweilen hat das Suchen bereits religiösen Charakter angenommen. Viele wollen gar nicht mehr finden. Sie wollen suchen.

Hätte Sigmund Freud die Datenbank der Google-Suchanfragen gekannt, es hätte ihn umgeschmissen. Menschen fragen Google alles und schaffen damit, wie der Suchmaschinenexperte John Batelle es nennt, eine gigantische „Datenbank der Absichten“ – eine Informationsgoldmine von nie dagewesenem Ausmaß. Was will die Welt? Ein Unternehmen, das diese Frage beantworten kann, hat Zugang zum Kern der menschlichen Kultur. Und zum innersten Geheimnis des Verkaufens. Dabei verändert Google nicht nur das Findbarmachen von Information. Leute zu googeln gehört längst zur modernen Lebensart. Beruflich und privat bereiten sich inzwischen viele auf eine Begegnung vor, indem sie routiniert nachsehen, was Google zu der Person alles auf Lager hat. Finden sich auf der Trefferliste zu einem Namen minder interessante Einträge, fallen manche Jobbewerber bereits durchs Raster. Partygänger sondieren, ehe sie sich in Geselligkeit begeben, die anderen Gäste. Amateur-Ahnenforscher suchen über Kontinente hinweg und bis in die Tiefe vergangener Jahrhunderte nach Familienmitgliedern. Angestellte mustern ihre Kollegen auf dem Netzradar. Zu immer mehr Menschen lassen sich Sträuße an Informationen ergoogeln. Wer versucht, seine elektronischen Spuren wieder einzusammeln, wird merken, dass das gar nicht so einfach ist. Der Betriebswirt Waqaas Fahmawi, ein in den USA lebender Palästinenser, erzählte der New York Times, dass er immer gern freizügig Petitionen unterschrieben habe. Seit Fahmawi entdeckt hat, dass etliche der Aufrufe digital archiviert sind, ist er mit der Vergabe seiner Unterschrift wesentlich restriktiver geworden. Er befürchtet, dass ihm künftige Arbeitgeber seine politischen Ansichten übelnehmen könnten und fühlt sich dadurch zugleich in seiner politischen Äußerungsfreiheit eingeschränkt: „Wir leben in einem System verschärfter Kontrolle.“

Die zunehmende Durchlässigkeit der Privatsphäre wird auch zur Verfeinerung von Dienstleistungen eingesetzt. In manchem teuren Hotel werden Gäste, die das erste Mal anreisen, vor ihrer Ankunft gegoogelt, damit man sie forcierter umsorgen kann. Basis sind die Reservierungsdaten – Name und Adresse. Wenn ein Gast laut Google gern morgens joggt, bekommt er ein Zimmer mit Morgensonne. „Don’t be evil“ – nicht böse sein – lautet das Google-Geschäftsmotto. Ob man sich in der Firma auch tatsächlich daran hält, lässt sich nicht kontrollieren. Google macht alles digital Findbare im Netz transparent, aber sich selbst lässt die Google-Gang nur ungern in die Karten schauen. Als der Nachrichtendienst Cnet im Frühjahr 2005 – ergoogelte – Informationen über Google-Geschäftsführer Eric Schmidt veröffentlichte, wurde das mit einer drastischen Kontaktsperre beantwortet. Ein Jahr lang erhielten Cnet-Mitarbeiter keine Auskunft mehr von Google.

Bisher war es so, dass man bei einer Suche etwas finden wollte. Aber die Zeiten haben sich geändert. Inzwischen kann es wichtiger sein, eine weitere Suche zu finden.

Im Frühjahr letzten Jahres wurde die 34-jährige Melanie McGuire angeklagt, ihren Mann William betäubt und erschossen zu haben. Das Opfer war nach dem Mord zerstückelt und die Leichenteile in drei Koffern verstaut worden, die in der fünf Autostunden entfernten Chesapeake Bay gefunden wurden. Zehn Tage vor dem Mord, am 18. April 2004 um 5.45 Uhr, war auf einem Laptop, den Melanie McGuire benutzt hatte, die Phrase „How To Commit Murder“ gegoogelt worden – „Wie begeht man einen Mord“. Am selben Tag wurden von dem Rechner aus weitere Suchanfragen durchgeführt, unter anderem zu Themen wie „nicht nachweisbare Gifte“ und „tödliche Dosis Digoxin“. Am 24. April 2007 sprach die Jury Melanie McGuire dessen schuldig, was der Richter einen „besonders abscheulichen und brutalen, ruchlos und planmäßig durchgeführten Mord“ nannte.

Auch in anderen Bereichen entscheidet Google inzwischen über Untergang oder Überleben. Parallel zum Siegeszug des coolen Suchschlitzes entwickelte sich eine neue Form der Weltwirtschaft: die Google-Ökonomie. Dabei geht es – egal welche Art von Geschäft man betreibt – vor allem darum, auf den Google-Trefferlisten so weit vorne wie möglich zu landen. Um sich nach vorne durchzudrängeln, gibt es eine Menge sauberer und unsauberer Tricks. Inzwischen lebt eine ganze Industrie von dieser Art Schiebung, die Suchmaschinen-Optimierer. Als die Ergebnislisten immer vermüllter wurden, entschloss man sich bei Google zu einem Gegenschlag. Am 16. November 2003 änderten sich die Sortierungen der Trefferlisten zum ersten Mal teils dramatisch. Zahllose Websites, die zuvor unter den Top 100 zu finden gewesen waren, wurden degradiert oder waren überhaupt nicht mehr zu finden. Auf manchen Sites versiegte der Besucherstrom und damit die Umsätze. Die Existenz zahlloser kleiner und großer Unternehmen hängt heute am seidenen Faden ihrer Positionierung auf einem der vorderen Plätze einer Google-Antwort.

Google ist die Wünschelrute fürs Netz. Bisweilen hat das Suchen bereits religiösen Charakter. Viele wollen gar nicht mehr finden. Sie wollen suchen

Google ist zum Inbegriff für „Sofortwissen“ geworden. Und der Witz von dem Mann, der nur ein Buch hat, ist nun Wirklichkeit. Das Buch heißt Google, und es wird immer dicker. Googles Dienste bieten so viel Komfort, dass ein Großteil der Netznutzer gar nicht erst nach Alternativen sucht, die durchaus vorhanden sind. Es ist mit der Supersuchmaschine ein bisschen wie mit dem Hollywood-Produzenten, dem eine traumhafte Villa mit Swimmingpool gehörte. Er war damit nicht zufrieden und ließ sich einen Steg aus Plexiglas über den Pool bauen, genauer gesagt: knapp unter die Wasseroberfläche. Wer nicht wusste, dass da ein Steg ist, sah nichts. Manchmal ging der Produzent dann rüber zum Pool und wandelte über dem Wasser. Ein Wunder. Im August 2003 wurde Google-Gründer Sergey Brin von einem Konferenzteilnehmer gefragt, wann ihm klargeworden sei, dass Google ein Wahrzeichen der Gegenwart geworden ist. Als Antwort erzählte Brin die Geschichte von jemandem, der angeblich einem Familienmitglied mit einem akuten Herzinfarkt das Leben gerettet hatte, indem er bei Google nachfragte, was zu tun sei, und mit den gewonnenen Informationen schnelle medizinische Hilfe hinzuziehen konnte. Mit anderen Worten: Google vollbringt inzwischen auch Wunder. Die Vorstellung, dass jemand eine Suchmaschine konsultiert, statt den Notarzt, ist absurd – jedenfalls in Deutschland. In einem Land wie den USA, in dem 46 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung leben, verheißt eine Einrichtung wie Google kostenlosen medizinischen Rat.

Täglich entstehen neue Dienste im Netz, die Google-Inhalte integrieren. Besonders bliebt ist der Kartendienst Google Maps, dessen Satellitenbilder sich mit Karten und selbstkonfektionierten Elementen zu den erstaunlichsten „Mashups“ verbinden lassen. Es gibt Karten mit Promi-Sichtungen, mit Restaurants, in die man etwas zu trinken mitbringen darf. Wer seinen Freunden Reisetipps geben will, schickt heutzutage Placemarks, mit denen sie sich in Google Earth an die richtigen Plätze führen lassen können, oder er veröffentlicht seine Empfehlungen in der entsprechenden Community, deren virtuelle Stecknadeln man mit einem Mausklick auf der Karte zuschalten kann. Google steht für die große Verheißung des Internets, sich einmal in eine Jetzt-sofort-alles-Maschine zu verwandeln. Das, was in Märchenbüchern Zauberei heißt – die augenblickliche Erfüllung jedes Wunschs. Einen Haken an der Sache hat der Kulturwissenschaftler Lewis Mumford beschrieben: „Nichts kann die menschliche Entwicklung so wirkungsvoll hemmen wie die mühelose, sofortige Befriedigung jedes Bedürfnisses durch mechanische, elektronische oder chemische Mittel. In der ganzen organischen Welt beruht Entwicklung auf Anstrengung, Interesse und aktiver Teilnahme – nicht zuletzt auf der stimulierenden Wirkung von Widerständen, Konflikten und Verzögerungen. Selbst bei den Ratten kommt vor der Paarung die Werbung.“ „Adwords“ und „Adsense“ heißt das bei Google. Das Unternehmen erzielt 99 Prozent seiner Einkünfte mit Werbung.

Peter Glaser, 50, ist als Kind mal in einen Kessel mit Bits gefallen. Er ist Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs und betreibt das Blog „Glaserei – Bemerkenswertes aus der digitalen Welt“ ( www.stuttgarter-zeitung.de/glaserei )