Deutsche Migrationspolitik: "Es fehlt der politische Wille"

Das neue Aktionsprogramm der Bundesregierung gegen Fachkräftemangel ersetzt kein modernes Einwanderungsgesetz, meint der kanadische Politologe Oliver Schmidtke.

In Deutschland fehlen Fachkräfte - Kanadas Migrationspolitik gilt oft als Vorbild. Bild: dpa

taz: Herr Schmidtke, der Bundestag hat ein Aktionsprogramm gegen den Fachkräftemangel beraten. Würde Deutschland damit im internationalen Wettbewerb um die Besten gestärkt?

Oliver Schmidtke: Nein. Dieses Aktionsprogramm kann keine ernsthafte Alternative zu einem modernen Einwanderungsgesetz sein, das sich das aktive Anwerben von qualifizierten Migranten und die Förderung ihrer gesellschaftlichen Integration zum Ziel setzt. Das Aktionsprogramm ist eher ein Eingeständnis des Scheiterns. Es nicht gelungen, die - gesellschaftlich und volkswirtschaftlich dringend gebotene - gesetzliche Grundlage für eine Einwanderungspolitik zu schaffen, die diesen Namen verdient.

Versteht man aus kanadischer Perspektive, warum Deutschland so zögerlich ist?

Kanadier sind es gewohnt, Einwanderung als positiven Beitrag zur Volkswirtschaft, zur Diversität ihrer Gesellschaft zu sehen - und sie verstehen nicht, warum die Deutschen sie noch immer vorrangig als Bedrohung wahrnehmen. Es gibt in Kanada keine ernstzunehmende politische Kraft, die nicht positiv zur Einwanderung stünde. Diese Vorstellung ist seit den 70er-Jahren tief in der kollektiven Psyche und der politischen Kultur verankert.

Kann man Deutschland überhaupt mit einem klassischen Einwanderungsland wie Kanada vergleichen?

Wenn man sich ein wenig die Geschichte anschaut, stellt man fest, dass die kanadische Politik der deutschen bis in die 1960er-Jahre sehr ähnlich war: Es war ein Nation-state-building-Projekt. Man wollte eine Nation bauen, indem man Engländer und Franzosen ins Land geholt hat, fast ausschließlich. Damals war Einwanderung sehr eng an den Begriff der nationalen Identität gekoppelt, wie es in Europa heute noch der Fall ist. Das ist erst in den letzten 20, 30 Jahren aufgebrochen.

Wie kam es dazu?

Der Problemdruck war entsprechend stark. Der Fluss von europäischen Immigranten, gerade der Hochqualifizierten, versiegte langsam, und die USA zogen immer mehr Experten ab. Die Kanadier haben gemerkt: Wirtschaftlich und demografisch können wir nur wettbewerbsfähig bleiben, wenn wir uns öffnen.

Wie hat Kanada es geschafft, die Bevölkerung bei dieser Neuorientierung mitzunehmen?

Es gab Widerstand dagegen, aber das ist überwunden. Parteiübergreifend gilt in der Politik die folgende Wahrnehmung: Die kanadische Gesellschaft wird durch die Einwanderung sowohl ökonomisch als auch sozial bereichert. Kanada wirbt jedes Jahr mehr als ein Prozent der Bevölkerung an, etwa 400.000 Einwanderer jährlich.

Woran mangelt es in Deutschland?

Ganz klar: am politischen Willen. Die Süssmuth-Kommission hat bereits 2001 ein modernes Einwanderungsgesetz in Grundzügen formuliert. Dass das nicht durchgekommen ist, zeigt, dass besonders bei den beiden großen Volksparteien der politische Wille fehlt. Es gibt noch immer diese Fehleinschätzung: Bei mehr als drei Millionen Arbeitslosen braucht man keine Einwanderung. Aber mit Blick auf den demografischen Wandel und den Mangel an Hochqualifizierten, den die neue OECD-Studie gerade wieder aufgezeigt hat, wird sich Deutschland schnell in einer Situation befinden, in der es reagieren muss.

Was kann Deutschland dabei von Kanada lernen?

Auf jeden Fall das relativ faire und transparente Verfahren beim Anwerben von Immigranten. Die Bewerber kennen die Kriterien für die Auswahl - unabhängig vom Herkunftsland. Seitdem die Anwerbung in Deutschland 1973 gestoppt wurde, gibt es kaum noch Wege, um als hochqualifizierter Migrant nach Deutschland zu gelangen.

Kanada wählt Einwanderer mithilfe eines Punktesystems aus. Was gibt den Ausschlag, damit jemand kommen darf?

Die wesentlichen Kriterien sind Bildungstitel, Arbeitserfahrung, Alter, Sprachfähigkeiten - also Kompetenzen, von denen man annimmt, dass sie sich auf dem Arbeitsmarkt bewähren. Bis zum Jahr 2001 hat man auch nach Berufsgruppen ausgewählt, aber das hat sich nur bedingt bewährt.

Arbeiten die Menschen nach ihrer Einwanderung tatsächlich in ihren Berufen - oder doch als Taxifahrer oder als Putzfrau?

Viele Migranten denken: Kanada hat mir so viele Punkte gegeben, es braucht mich als Mediziner, Manager oder IT-Spezialist. Sie haben dann mit der Realität zu kämpfen, dass sich der Einstieg in bestimmte Berufsfelder sehr schwierig gestaltet, besonders in die streng regulierten Berufe wie Mediziner oder Ingenieure. Da operieren die Berufsverbände als Gatekeeper und entscheiden, wer Zugang hat und wer nicht. Bei den IT-Leuten oder den Managern ist es sehr viel einfacher.

Was bedeutet das für Mediziner oder Ingenieure?

Nur einer von zehn Ärzten arbeitet nach fünf Jahren wieder in seinem Beruf. Oftmals bedarf es einer langen Übergangszeit oder aber der Neuorientierung.

Was machen die Leute in der Zwischenzeit?

Sie versuchen sich mit schlechter qualifizierten Jobs über Wasser halten, zum Beispiel als Taxifahrer. Kanada hat kein sehr großzügiges Sozialsystem; die Einwanderer müssen arbeiten, um ihre Existenzgrundlage zu sichern. Wenn sie aber arbeiten, können sie sich schlechter nachqualifizieren. Das verlängert dann wieder die Zeit des Übergangs und führt zu Frustration. Von zehn Angeworbenen verlassen vier innerhalb der ersten drei Jahre wieder das Land.

Nach dem Punktesystem werden 50 bis 60 Prozent der Einwanderer angeworben, sie gelten als gute, ökonomisch verwertbare Migranten. Überträgt sich dieser positive Blick auch auf andere Gruppen, zum Beispiel Flüchtlinge?

Wenn man Einwanderung rein aus dem ökonomischen Nutzenkalkül betreibt, dann passen Flüchtlinge nicht in dieses Kalkül, das stimmt. Dennoch würde ich sagen: Auch die Flüchtlinge profitieren letztlich davon. Sie kommen in ein gesellschaftliches Umfeld, in dem sie weniger Probleme haben, sich einzufinden. Dennoch ist es kein Zufall, dass die Anzahl der Flüchtlinge im Vergleich zu denen, die über das Punktesystem ins Land kommen, immer weiter abnimmt.

Unter Flüchtlingen gibt es auch viele Hochqualifizierte. Wird ihr Potenzial - anders als in Deutschland - genutzt?

Nicht ausreichend. In den letzten Jahren ist es auch für Einwanderer, die über das Punktesystem ausgewählt wurden, schwerer geworden. Die Einkommensschere zwischen Neueinwanderern und der einheimischen Bevölkerung wird größer, die Armut unter bestimmten Migrantengruppen in den Großstädten nimmt zu. Da klappt etwas nicht mehr so, wie es Kanada als Einwanderungsgesellschaft gewohnt war. Es gibt Brüche.

Wird das kanadische Modell, das in Deutschland häufig als Vorbild gehandelt wird, hierzulande idealisiert?

Wenn man den Umfang der Migration in Kanada betrachtet, dann klappt die Integration von Zuwanderern immer noch vergleichsweise gut. Beispielsweise sind Probleme bei der Eingliederung der Kinder von Migranten in das schulische und universitäre Ausbildungssystem weitgehend unbekannt. Auch gelingt dem Großteil der Neuankömmlinge der berufliche Neustart in Kanada relativ bruchlos. Dazu kommt, dass die Einwanderer gesellschaftlich fast gänzlich akzeptiert werden und bereits nach drei Jahren die Möglichkeit haben, kanadische Staatsbürger zu werden. Das motiviert viele und gibt Ihnen das Gefühl der Zugehörigkeit. Trotz der Probleme bei der Arbeitsmarktintegration kann das kanadische Modell meiner Meinung nach für Deutschland durchaus wegweisend sein.

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