Lawrence Weiner-Retrospektive in NRW: Radikal Irritieren

Mit "As far as the eye can see" zeigt die Kunstsammlung NRW in Düsseldorf eine große Retrospektive des US-amerikanischen Konzeptkünstlers Lawrence Weiner.

Der Betrachter soll den Sinn der Texte selbst suchen. Bild: dpa

Typische Textarbeiten von Lawrence Weiner, in puristischen Versalien auf die weiße Wand gesetzt, lesen sich so: "Eine Wand durch einen einzigen Schrotflintenschuss mit Kratern übersät" (1968), "Ein Liter grüne Lackfarbe auf eine Backsteinmauer geworfen" (1988) oder auch etwas komplizierter: "(?) + (?) Platziert in der Hitze des Tages (?) + (?) Platziert in der Hitze der Nacht" (1991). Als der in der New Yorker Bronx aufgewachsene Künstler in den 60er-Jahren damit beginnt, derlei entpersonifizierte Vorgangs- und Tätigkeitsbeschreibungen zu seinem individuellen, künstlerischen Werkstoff zu machen, statt die in seinen Sätzen benannten Materialien tatsächlich einzusetzen, um das Beschriebene auch auszuführen, nennt man ihn bald den "Bildhauer der Sprache".

Als solcher avanciert der junge Minimalist zu einem der einflussreichsten Vertreter der Konzeptkunst. Denn damals galt diese explizite Abkehr von der traditionell bildlichen beziehungsweise faktisch gegenständlichen Darstellung als bahnbrechend. Eine Einordnung, die der Künstler selbst heute so gar nicht nachvollziehen will: "Was ich damals gemacht habe, ist nichts Revolutionäres. Das war ganz normal", erklärt Weiner mit sonorer Stimme. Er sei einfach Teil dieser sich damals international befruchtenden Kunstszene und des Zeitgeistes gewesen und habe - sozusagen zwangsläufig - nur seinen persönlichen Beitrag geleistet. Weiners Bass lässt die zahlreichen Pausenzigaretten erahnen, von denen der Mittsechziger noch schnell eine inhaliert, bevor er anlässlich der einzigen in Europa gezeigten Retrospektive seines Oeuvres im Düsseldorfer K21 zum Interview bittet. Sein unkonventionell zotteliger Vollbart und sein ebenso zotteliges Haupthaar lassen ihn nicht unmittelbar als reichen Kosmopoliten erscheinen.

Doch das ist Weiner zweifellos. Seit Karrierebeginn reist er viel. Seine Werke sind überall auf der Welt zu bestaunen - an Hausfassaden, Aussichtstürmen, sogar auf Gullydeckeln. Auch ins Rheinland hat er schon Kontakte geknüpft, als Düsseldorf noch das Zentrum der internationalen Kunstszene war. 1967 war Konrad Fischer der erste Galerist, der Weiners minimalistische Arbeiten in Deutschland promotete.

Die in Düsseldorf noch einmal neu arrangierte Gesamtschau seines Werks - im vergangenen Jahr als weltweit erste Retrospektive in Übersee zu sehen - hat Weiner zusammen mit den US-amerikanischen Whitney Museum, New York, und Moca in Los Angeles entwickelt. Mag sein, dass ihr Aufbau in den USA dem minimalistischen Streben nach schematischer Klarheit, Logik und Ordnungsmustern wie Anfang und Ende oder Fülle und Leere entsprochen hat. Doch im Untergeschoss des K21 wird die Aussage des Ausstellungstitels "As far as the eye can see" unfreiwillig konterkariert. Denn angesichts der mehr als 50 unchronologisch und nicht hierarchisch eingepassten Spracharbeiten, frühen Gemälde, Zeichnungen und Poster läuft der Betrachter Gefahr, allzu schnell an seine Wahrnehmungsgrenzen zu stoßen. Einzig die oberhalb der baulich herausragenden Bullaugen angebrachte blaue Letternreihe "An die See?" wirkt - schon wegen ihres inhaltlichen Bezugs - visuell reizvoll.

Dabei ist es sehr spannend, sich mit Lawrence Weiners Lebenswerk auseinanderzusetzen. Denn dann stellt man fest, dass viele seiner Arbeiten bewusst so wenig konkret daherkommen, dass unmöglich ist, sie allgemeingültig zu begreifen. Genau die individuelle Sinngebung durch den Betrachter selbst nämlich ist es, die der Künstler anstrebt. Das wird etwa in der schon genannten "Platzhalter"-Arbeit nachvollziehbar, in der die Klammern als imaginäre, assoziativ vom Leser selbst auszufüllende Leerstellen fungieren.

Dem "menschenfreundlichen Materialisten" geht es, wie Julian Heynen, Direktor des K21, sagt, in erster Linie gar nicht darum, dem Betrachter einen konkreten Inhalt mitzuteilen, sondern generell um den Dialog mit seinem Publikum. Ihm ist gleichgültig, ob es sein Werk versteht und was es in seinen Arbeiten sieht. Wichtig ist ihm allein, dass seine Arbeiten die Menschen erreichen und irritieren. Dementsprechend strebt er auch heute noch in radikaler Weise danach, wahrgenommen zu werden. Vor diesem Hintergrund könnte er mit seiner Schau - zu der auch Arbeiten gehören, die über das K21 hinaus an Düsseldorfer Fassaden, Straßenbahnwagen und sogar bundesweit in Zeitungen auftauchen - seinen Öffentlichkeitsanspruch kaum gnadenloser durchsetzen.

MARIKA DRESSELHAUS

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.